Inzwischen sind ja bereits 10 Beiträge in unserer Artikelreihe „Eignungsdiagnostik kompakt“ erschienen. Heute widmen wir uns einer im Prinzip für alle diagnostischen Themen (und damit letztlich alle HR-Themen) relevanten Methodik zu, der…
Anforderungsanalyse.
Definition und Bedeutung
Die Anforderungsanalyse, definiert als systematische Erhebung und Bewertung von Eigenschaften und Fähigkeiten für eine bestimmte Position, stellt einen zentralen Bestandteil der Personalpsychologie und Eignungsdiagnostik dar. Sie ist entscheidend für die erfolgreiche Personalauswahl und Entwicklung präziser Anforderungsprofile.
Durch dieses strukturierte Vorgehen werden fachliche, methodische und soziale Kompetenzen identifiziert, die für den Erfolg in einer bestimmten Position notwendig sind. Dadurch wird die Übereinstimmung zwischen Mitarbeiterqualifikationen und den Anforderungen der Stelle sowie dem Unternehmensumfeld sichergestellt. Ohne eine präzise Analyse steigt das Risiko von Fehlbesetzungen, was negative Auswirkungen auf die Passung zwischen Mitarbeiter und Aufgabe sowie auf Teamdynamik und Arbeitsklima haben kann.
Als wichtiger Referenzrahmen dient die DIN 33430, welche detaillierte Richtlinien für die Eignungsdiagnostik enthält. Die fundamentale Bedeutung der Anforderungsanalyse wird im Leitsatz der DIN 33430 zum Anforderungsbezug verdeutlicht:
„Eine Arbeits- und Anforderungsanalyse (…) sollte die Basis einer Eignungsbeurteilung sein. Die Anforderungsanalyse sollte die Merkmale eines Arbeitsplatzes, einer Ausbildung bzw. eines Studiums, eines Berufs oder einer beruflichen Tätigkeit ermitteln, die für den beruflichen Erfolg und die berufliche Zufriedenheit bedeutsam sind. Aus der Anforderungsanalyse sollten diejenigen Eignungsmerkmale (…) mitsamt ihren Ausprägungsgraden abgeleitet werden, die zur Erfüllung der Anforderungen nötig sind. (…)“ (DIN 33430, S. 12).
Methoden der Anforderungsanalyse
Die Durchführung einer Anforderungsanalyse variiert je nach Unternehmen und Position. Es kommen verschiedene methodische Ansätze zum Einsatz:
- Arbeitsplatzanalytische Methoden basieren auf bestehenden Arbeitsanalysen und untersuchen systematisch die Tätigkeiten, Aufgaben und Arbeitsbedingungen, um daraus Anforderungen abzuleiten.
- Personenbezogene Methoden untersuchen empirische Zusammenhänge zwischen Tests und Berufserfolg. Sie identifizieren Merkmale erfolgreicher Stelleninhaber und leiten daraus notwendige Qualifikationen für Bewerber ab.
- Tätigkeitsbezogene Ansätze beziehen Expertenwissen in die Analyse ein und konzentrieren sich auf die Kernaufgaben einer Position.
Die Critical Incident Technique (CIT)
Ein besonders wirksames Beispiel für tätigkeitsbezogene Ansätze ist die Critical Incident Technique (CIT), entwickelt von John C. Flanagan. Diese Methode fokussiert sich auf die Identifikation von erfolgsrelevanten Verhaltensweisen in kritischen Situationen. Auf Basis dieser Erkenntnisse werden die notwendigen Merkmale für die erfolgreiche Ausführung der Tätigkeit abgeleitet.
Um ein möglichst präzises Anforderungsprofil zu erstellen, wird bei der CIT systematisch vorgegangen:
- Erhebung kritischer Situationen
Zunächst werden Personen, die die Tätigkeit ausüben oder Führungspersonen sind, befragt, um Situationen zu identifizieren, in denen bestimmtes Verhalten den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ausmachte. Die Erhebung erfolgt häufig durch strukturierte Interviews, standardisierte Fragebögen oder moderierte Workshops. - Bewertung der kritischen Situationen
Im nächsten Schritt wird geprüft, wie gut sich anhand der beschriebenen Verhaltensweisen eine klare Unterscheidung zwischen leistungsstarken und weniger leistungsstarken Personen treffen lässt. Nur Situationen, bei denen diese Unterscheidung eindeutig ist, fließen in das Anforderungsprofil ein. - Gruppierung von Verhaltensweisen
Im Anschluss werden die ermittelten Verhaltensweisen in Anforderungskategorien gruppiert. Ziel ist es, Merkmale zu identifizieren, die für den Erfolg in der Tätigkeit notwendig sind. Diese Merkmale bilden die Grundlage für das Anforderungsprofil. - Prüfung des Anforderungsprofils
Das Anforderungsprofil wird auf Vollständigkeit, Präzision und Sprachgebrauch überprüft. Auch die Bedeutung der einzelnen Anforderungen sowie deren Trainierbarkeit und Kompensierbarkeit werden bewertet, um sicherzustellen, dass das Profil praktikabel und effektiv für die Personalauswahl und -entwicklung ist.
Praktische Anwendung der CIT
Das aus der CIT abgeleitete Anforderungsprofil hat einen hohen praktischen Nutzen in verschiedenen Bereichen:
Im Personalmarketing sollte ein fundiertes Anforderungsprofil etwa die Basis für die Formulierung von Stellenanzeigen bilden.
In der Personalauswahl kann es zur Erstellung von strukturierten Interviewleitfäden verwendet werden, die sich auf erfolgsrelevante Situationen konzentrieren. Bewerber werden gefragt, wie sie in vergleichbaren Situationen gehandelt hätten, und ihre Antworten werden mit den zuvor definierten Verhaltensankern (konkrete Beschreibungen erwünschten Verhaltens) abgeglichen. Auch für die Entwicklung sog. Situational Judgment Tests, die bspw. Element eines Auswahltests sein können, ist die CIT ein sehr gut geeignetes Instrument.
Für Assessment-Center können Aufgaben gezielt entwickelt werden, um relevante Verhaltensmerkmale realitätsnah zu simulieren und die Bewerberbeurteilung auf eine solide Grundlage zu stellen.
In der Personalentwicklung liefert das Profil wertvolle Hinweise darauf, welche Merkmale ein Mitarbeiter gezielt weiterentwickeln sollte, um seine Leistung zu steigern.
Herausforderungen der Anforderungsanalyse
Die Anforderungsanalyse in der Personalauswahl und -entwicklung steht vor mehreren Herausforderungen:
Ein zentrales Problem ist die schwierige Bestimmung der „Passung“ zwischen Person und Arbeitsumfeld. Diese Passung, definiert als Grad der Übereinstimmung zwischen individuellen Merkmalen und Anforderungen, kann auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden:
- Auf Organisationsebene (Werte, Kultur)
- Auf Teamebene (Arbeitsweise, Kommunikation)
- Auf Tätigkeitsebene (konkrete Aufgaben)
Zudem ändern sich die Anforderungen an Positionen und die Eigenschaften der Mitarbeiter dynamisch, was die Erstellung stabiler Anforderungsprofile erschwert. Die Validität der Anforderungsanalyse wird durch die Auswahl von Methoden und befragten Personen beeinflusst, was die Objektivität infrage stellt.
Auch die individuellen Spielräume innerhalb von Positionen werden oft nicht ausreichend berücksichtigt. Eine Person kann eine Position auf unterschiedliche Weise erfolgreich ausfüllen, weshalb eine stärkere Individualisierung und kontinuierliche Anpassung von Anforderungsprofilen notwendig sind.
Fazit: Die Anforderungsanalyse als Grundlage für erfolgreiche Personalentscheidungen
Die Anforderungsanalyse ist mehr als nur ein Schritt im Auswahlprozess – sie bildet den Schlüssel für ein fundiertes, transparentes und objektives Auswahlverfahren. Durch die präzise Definition der Anforderungen an eine Stelle und das Minimieren von Biases und Fehlerquellen stellen Unternehmen sicher, dass der richtige Kandidat die richtige Position besetzt.
Anstatt die Anforderungsanalyse als notwendiges Übel zu betrachten, sollte sie als Chance gesehen werden, den Auswahlprozess gezielt zu optimieren. Unternehmen, die in eine sorgfältige Anforderungsanalyse investieren, legen den Grundstein für eine erfolgreiche Personalauswahl und für langfristig zufriedene und produktive Mitarbeiter.
*****
Bisher in der Artikelreihe „Eignungsdiagnostik kompakt“ erschienen:
11. Arbeitszeugnis: Zwischen prognostischem Wert und Wohlwollen. Was die Wissenschaft dazu sagt…
https://blog.recrutainment.de/2025/03/03/eignungsdiagnostik-kompakt-arbeitszeugnis-zwischen-prognostischem-wert-und-wohlwollen-was-die-wissenschaft-dazu-sagt/
Bias – Warum wir uns täuschen. Und wie wir es besser machen können.
https://blog.recrutainment.de/2025/02/09/eignungsdiagnostik-kompakt-bias-warum-wir-uns-taeuschen-und-wie-wir-es-besser-machen-koennen/
Was sagen Noten über Intelligenz? Und sind sie ein guter Prädiktor für Berufserfolg?
https://blog.recrutainment.de/2025/02/04/was-sagen-noten-ueber-intelligenz-und-sind-sie-ein-guter-praediktor-fuer-berufserfolg/
Hobbies und ihre Relevanz in der Bewerbung…
https://blog.recrutainment.de/2024/11/24/eignungsdiagnostik-kompakt-hobbies-und-ihre-relevanz-in-der-bewerbung/
Was ist eigentlich…? Heute: (berufsbezogene) Persönlichkeitstests im Recruiting: Mehr als nur ein Buzzword?
https://blog.recrutainment.de/2024/10/28/eignungsdiagnostik-kompakt-was-ist-eigentlich-heute-berufsbezogene-persoenlichkeitstests-im-recruiting-mehr-als-nur-ein-buzzword/
Wie lässt sich die Qualität des Recruitings „beziffern“? Das Brogden-Cronbach-Gleser-Modell…
https://blog.recrutainment.de/2024/10/18/eignungsdiagnostik-kompakt-wie-laesst-sich-die-qualitaet-des-recruitings-beziffern-das-brogden-cronbach-gleser-modell/
Was ist eigentlich…? Heute: Kognitive Fähigkeitstests
https://blog.recrutainment.de/2024/09/25/eignungsdiagnostik-kompakt-was-ist-eigentlich-eine-heute-kognitive-faehigkeitstests/
Was ist eigentlich ein(e)…? Heute: Die Arbeitsprobe
https://blog.recrutainment.de/2024/08/12/eignungsdiagnostik-kompakt-was-ist-eigentlich-eine-heute-die-arbeitsprobe/
Eignungsdiagnostik kompakt – Heute: Integritätstest
https://blog.recrutainment.de/2024/07/23/eignungsdiagnostik-kompakt-heute-integritaetstest/
Was ist eigentlich ein…? Heute: Das Strukturierte Einstellungsinterview
https://blog.recrutainment.de/2024/07/17/was-ist-eigentlich-ein-heute-das-strukturierte-einstellungsinterview/
Warum wir Intelligenz nicht mit dem Lineal und Persönlichkeit nicht mit dem Thermometer messen können. Erläuterungen zur „klassischen Testtheorie“.
https://blog.recrutainment.de/2024/01/18/warum-wir-intelligenz-nicht-mit-dem-lineal-und-persoenlichkeit-nicht-mit-dem-thermometer-messen-koennen-erlaeuterungen-zur-klassischen-testtheorie/