Kürzlich fragte ich im Rahmen eines Vortrags in einen Raum mit ca. 80 Talent Acquisition Verantwortlichen sinngemäß, wer systematisch misst, ob im eigenen Unternehmen eigentlich „gut“ rekrutiert wird.
Damit meine ich NICHT, ob man eine kurze Time-to-Hire hat oder seine Stellenanzeigen budgetoptimiert über Programmatic Advertising auf die am besten konvertierenden Job-Plattformen ausspielt. Damit meine ich auch nicht, ob die eigene Arbeitgebermarke in Bewerberbefragungen, Kununu-Bewertungen oder Arbeitgeberrankings gut wegkommt oder KandidatInnen den Auswahlprozess als angenehm empfinden. Das sind natürlich alles wichtige und erstrebenswerte Ziele und Maßnahmen, aber die eigentliche Kernfrage „haben wir gut rekrutiert?“ und zwar in dem Sinne, dass für eine Vakanz ein guter Kandidat oder eine gute Kandidatin eingestellt wurde, der/die den Job erfolgreich ausführt, im Unternehmen auch hinreichend verbleibt, idealerweise gut für die Team- und/oder Unternehmenskultur ist usw., diese Kernfrage beantwortet das alles nicht.
Die Resonanz auf meine Frage an die 80 TA-Verantwortlichen? Niemand. Kein einziger. Keine einzige.
D.h. niemand bringt Informationen über die Performance von Mitarbeitenden, also Metriken, die das Merkmal „Berufserfolg“ quantifizieren, zusammen mit Daten, die im Kontext der Personalgewinnung anfallen. Das Recruiting kann dann also nachher vielleicht sagen, wie lange die Stellenbesetzung gedauert hat, wie teuer sie war, über welche Kanäle wie viele Bewerbungen kamen und über welche Wege nachher diejenige Person kam, die die Stelle bekommen hat. Aber ob diese Person eigentlich eine gut geeignete, gut passende, „berufserfolgreiche“ ist, das entzieht sich der Kenntnis des Recruitings.
Die eigentlich entscheidende Metrik, um die Qualität der Personalgewinnung quantitativ bewerten zu können, die Quality of Hire wird also scheinbar gar nicht gemessen. Und das betrifft ganz sicher nicht nur die 80 bei dem Vortrag anwesenden TA-Verantwortlichen, das ist der absolute Normalfall im Personalwesen.
Ich finde, das Thema muss dringend auf den Tisch, denn nur so kommen wir zu Lösungen für das eigentliche Problem. Unter anderem deswegen stellen wir die #HREdge25 am 27. März 25 ja auch explizit unter das Oberthema „Quality of Hire„. Wer da dabei sein möchte, der sollte sich also dringend umgehend ein Ticket sichern…
Etwas provokativ könnte man sagen: Quality of Hire ist die einzige KPI in der Personalgewinnung, der einzige „Key„-Performance Indicator, alles andere sind Kennzahlen…
Wie kann man sich der Messung der Quality of Hire nähern?
Zugegeben: Die Quality of Hire zu messen ist nicht trivial.
Es geht damit los, dass man erstmal definieren muss, was denn „Berufserfolg“ eigentlich ist. Harte Leistungsdaten wie „Umsatzzahlen“ (z.B. bei Sales-Personal) sind noch halbwegs zu greifen. Frühfluktuation oder Verweildauer im Unternehmen auch. Aber wie sieht es aus, wenn jemand erfolgreich Kundenbeziehungen pflegt, wenn jemand für gute Atmosphäre sorgt, wenn jemand regelmäßig gute Produktideen reinwirft, aus denen aber erst Jahre später zählbarer Umsatz wird etc.?
Hinzukommen methodische Messprobleme – hängen die schlechte Performance eines Mitarbeiters, die dieser nach drei Jahren zeigt, und die Auswahlentscheidung des Recruitings eigentlich überhaupt zusammen oder performt der eigentlich sehr gute Mitarbeiter gerade deswegen schlecht, weil er private Probleme hat, also etwas, dass das Recruiting vor drei Jahren gar nicht erkennen konnte?
Auch verhindern Datenschutz und Mitbestimmung oft, dass Daten aus der Personalgewinnung und Performancedaten von Mitarbeitenden überhaupt irgendwie zusammengebracht werden können.
Alles richtig. Aber deswegen mit den Schultern zu zucken und sich der Messung der Quality of Hire noch nicht einmal zu nähern, das kann ja wohl nicht die Antwort sein.
Ein paar Ansätze, wie man sich der Messung der Quality of Hire nähern kann, hatte ich vor kurzem in einem Artikel ja schon einmal skizziert.
Heute möchte ich euch im Rahmen der Reihe „Eignungsdiagnostik kompakt“ ein Modell aus der Wissenschaft vorstellen, das man gut als Grundlage oder zumindest als „Inspiration“ heranziehen kann, um zu eigenen, unternehmensindividuellen Metriken zu gelangen:
Das Brogden-Cronbach-Gleser-Modell
Nein, dieses geht nicht auf doppel- und dreifachnamenerprobte FDP-Politikerinnen zurück, sondern auf die Forscher Hubert E. Brogden (When testing pays off, 1949), Lee Cronbach und Goldine Gleser (Psychological tests and personnel decisions, 1965).
Das Modell selber ist schon ein bisschen psychometrisches Hochreck und sieht auf den ersten Blick auch komplex aus. Aber wir sind ja hier bei Eignungsdiagnostik kompakt, darum habe ich mal runtergedampft.
Was ist das Brogden-Cronbach-Gleser-Modell?
Das Brogden-Cronbach-Gleser-Modell ist ein Kosten-Nutzen-Analyse-Modell in der Personalpsychologie. Es dient dem Zweck, den wirtschaftlichen Nutzen von Personalauswahlverfahren zu berechnen. Es geht konkret darum, einen monetären Zugewinn zu beziffern, wenn man ein besseres Auswahlverfahren verwendet. Brogdens grundlegender Aufsatz „When testing pays off“ beginnt daher auch mit dem vielsagenden Satz
„Testing can save money.“…
Die Formel des Modells sieht so aus (sieht auf den ersten Blick kompliziert aus, ist es aber gar nicht, siehe dazu unten die Erklärungen und das Beispiel):
Man braucht:
- Die Anzahl eingestellter Personen (N_A).
- Deren Verweildauer im Unternehmen in Jahren (T).
- Die prognostische Validität des Auswahlverfahrens (r_xy).
Ja, das ist nicht ganz ohne. Die allerwenigsten untersuchen diese. Aber man kann sich hier zumindest mit Erkenntnissen der Forschung behelfen und schaut mal in entsprechende Meta-Analysen (Schmidt/Hunter, Sackett et. al., Hülsheger/Maier etc.).
- Einen Wert über die Performance der BewerberInnen im Auswahlprozess (Z_x).
Auch nicht einfach. Das Modell rechnet hier mit sog. Z-Werten. Um diese zu ermitteln kann man sich eines einfachen Tricks bedienen: Man nimmt den sog. Prozentrang (Perzentil) und sucht den dazugehörigen Z-Wert raus. Ein Prozentrang besagt: Wieviel Prozent einer Vergleichsgruppe schneidet gleichgut oder schlechter ab.
Bei einer normalverteilten Stichprobe entspricht ein Prozentrang 50 (also 50% aller Vergleichspersonen schneiden besser, 50% schlechter ab) einem Z-Wert von 0. Diese Personen sind also „der Durchschnitt“.
Personen, deren Leistung eine Standardabweichung besser ausfällt, erreichen einen Prozentrang von 84 (84% schneiden schlechter ab, nur 16% besser). Ein Prozentrang von 84 entspricht einem Z-Wert von 1.
Hierfür gibt es schöne Tabellen, um die jeweiligen Z-Werte direkt abzulesen, siehe etwa diese hier von Studyflix:
- Einen Wert über die unterschiedlichen Arbeitsleistungen guter und schlechter Mitarbeiter (SD_y)
Ja, dieser Wert ist das dickste Brett, aber entscheidend. Wie beziffert man das? Man könnte z.B. mit den Werten starten, die Mitarbeiter A (guter Mitarbeiter) und Mitarbeiter B (schlechter Mitarbeiter) verdienen und dann schätzen, um wieviel höher oder niedriger der Wert von deren Arbeitsleistung ist.
- Kosten des Auswahlverfahrens pro Kandidat (C)
- Anzahl Kandidaten/Bewerber (N_B)
➡ Die ersten fünf Werte werden nun miteinander multipliziert und man erhält den Gewinn durch das „bessere“ Recruiting. Davon zieht man zusätzlichen Kosten ab, die durch das „bessere“ Recruiting entstehen und man erhält den Nutzenzuwachs durch das „bessere“ Recruiting in Geldeinheiten.
Ein Beispiel mit Zahlen:
Wir nehmen an, wir stellen eine Person ein -> N_A ist also 1.
Wir nehmen an, diese Person verbleibt 3 Jahre im Unternehmen -> T ist also 3.
Wir nehmen an, wir wählen die Kandidaten nicht nach Zufall aus, sondern wir setzen einen Intelligenztest in der Personalauswahl ein. -> r_xy ist (nach den metaanalytischen Befunden von Sackett et. al., 2022) also .31.
Wir nehmen an, die Bewerbenden schneiden im Auswahlverfahren ziemlich gut ab und liegen im Test auf einem Prozentrang von 84 -> Z_x ist also 1.
Wir nehmen an, die Stelle ist mit 40000 € im Jahr dotiert. Durchschnittlich liegt der jährliche Arbeitsertrag von Mitarbeitenden auf dieser Stelle bei 60000 €. Überdurchschnittliche Mitarbeiter erbringen einen um eine Standardabweichung, also 32% höheren Arbeitsertrag. -> SD_y ist also 19200 €.
Wir nehmen an, die Kosten des Auswahlverfahrens pro Bewerber liegen bei 50 € -> C ist also 50 € (soviel muss man für gute kogn. Leistungstests noch nicht mal ausgeben, gibt es bei uns ab 12 €…).
Wir nehmen an, wir haben 10 Bewerber -> N_B ist also 10.
In diesem Fall beträgt der finanzielle Nutzen des Auswahlverfahrens gegenüber der Zufallsauswahl: 17.356 €.
Und jetzt könnt Ihr gern mal mit den obigen Zahlen ein wenig rumspielen…
Würde ceteris paribus bspw. die Verweildauer auf 4 Jahre steigen, läge der Gewinn bei 23.308 €.
Würde das Auswahlverfahren noch um ein weiteres valides Bewertungsverfahren erweitert, also z.B. zusätzlich zum Intelligenztest noch ein strukturiertes Interview, steigt die prognostische Validität. Stiege die „inkrementelle“ Validität so etwa auf einen Wert von .50, läge der Gewinn bei 28.300 €.
Usw.
Fazit:
Ja, das Brogden-Cronbach-Gleser-Modell ist nicht ganz trivial. Viele der benötigten Rechenwerte liegen nicht messerscharf gemessen vor. Manche basieren auf Schätzungen oder allgemeinen Erkenntnissen der wissenschaftlichen Forschung (über die oft genug wiederum selber heftiger Meinungsstreit tobt – siehe Schmidt/Hunter-Sackett-Kontroverse).
Insofern werden auch Gewinn- oder Nutzenberechnungen auf Basis dieses (oder ähnlicher darauf aufbauender Modelle) immer diskutabel und angreifbar sein.
ABER:
Es ist allemal besser, also über die Qualität des Recruitings letztlich gar keine Erkenntnisse und Bewertungen zu haben. HR fordert immer den „Platz am Tisch“, wenn es um Managemententscheidungen geht. Management spricht aber nun mal die Sprache der Zahlen. Wenn HR den Wert der eigenen Arbeit nicht in Euro ausdrücken kann, dann wird der CFO damit weniger anfangen können.
Wenn das Recruiting hingegen sagen kann „ich möchte gern 500 € für den Einsatz von Intelligenztests im Auswahlprozess ausgeben, weil ich damit dem Unternehmen einen Gewinn von 17.356 € bringe“, dann könnte ich mir vorstellen, dass diese sonst nur aus dem Drogenhandel bekannte Rendite auch den CFO überzeugt… 😋
Quality of hire muss einfach in alle Köpfe – ist doch völlig logisch. Genau ausrechnen lässt sich das aus meiner Sicht nicht, dass weiß auch jeder gute CFO. Wichtig ist, dass der Fokus im gesamten Unternehmen auf QoH liegt. Recruiting DNA sozusagen.
Schau einfach auf LinkedIn, dort sieht Du, warum niemand der 80 Teilnehmer die Hand gehoben hat. HR beschäftigt sich aktuell mehr mit Politik, Auszeichnungen und immer wiederkehrenden Kalender-Posts mit dem obligatorischen Selfie für’s Ego und den Algo.
Gute Führung ist besser als schlechte Führung. :-)
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