Es gibt über 190 kognitive Biases. 190! Eine beeindruckende Zahl, die nicht nur zeigt, wie facettenreich unser Denken ist, sondern auch, wie anfällig wir für systematische Denkfehler sind. Eine Grafik, die dieses Universum der Biases eindrucksvoll visualisiert, ist der Cognitive Bias Codex von John Manoogian III. Wer einmal einen Blick darauf wirft, merkt schnell: Wir alle unterliegen solchen Verzerrungen – und zwar ständig.
Doch welche Biases sind besonders relevant, wenn es um Entscheidungen geht, etwa in der Personalgewinnung und Bewerbendenbeurteilung? Wir haben mal ein paar herausgegriffen. Und wie kann man diese Effekte minimieren? Auch dazu ein paar Hinweise…
Zunächst aber erst einmal:
Was ist ein Bias – und warum ist das wichtig?
Ein Bias ist eine systematische Verzerrung in unserer Wahrnehmung oder Entscheidungsfindung. Unser Gehirn nutzt dabei Heuristiken – mentale Abkürzungen, die schnellere Entscheidungen ermöglichen, aber auch Fehler begünstigen.
Die Forschung dazu wurde von Kahneman und Tversky geprägt, die zeigen, wie solche Heuristiken unsere Urteile verzerren. Kritiker wie Gigerenzer betonen jedoch, dass Heuristiken oft effizient und sinnvoll sind. Wer hierzu einen leicht verständlichen Überblick sucht, dem sei dieser Beitrag im Deutschlandfunk empfohlen. Beide Perspektiven verdeutlichen, dass Biases einerseits nützlich, andererseits problematisch sein können – vor allem in sensiblen Kontexten wie der Bewerbendenbeurteilung. Umso wichtiger ist es, diese Verzerrungen zu erkennen und Strategien zu entwickeln, um sie zu minimieren.
Vier Biases, die im Alltag (und besonders im Recruiting) wichtig sind
1. Primacy- und Recency-Effekt
Der erste und der letzte Eindruck zählen. Das kennen wir alle – etwa beim Vorstellungsgespräch. Wir erinnern uns besonders gut an den Anfang und das Ende eines Gesprächs, während Details aus der Mitte oft verblassen. Das kann dazu führen, dass frühe oder späte Eindrücke überproportional stark unsere Entscheidungen beeinflussen. Auch wenn an einem Tag mehrere Interviews geführt werden, dominieren die Eindrücke der ersten und der letzten KandidatInnen. Die dazwischen gehen leicht unter.
2. Confirmation Bias
Wir sehen, was wir sehen wollen. Menschen neigen dazu, Informationen zu suchen und zu interpretieren, die ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen. Ein Beispiel? Im Recruiting kann der Confirmation Bias dazu führen, dass wir bei Bewerbenden nur die Informationen wahrnehmen, die zu unserem ersten Eindruck passen – und andere ignorieren. Oder wir haben eine Präferenz für Absolventen einer gewissen Fachrichtung und suchen dann im Gespräch mit Kandidaten bevorzugt nach Argumenten, die diese Präferenz bestätigen.
3. Halo-Effekt
Ein einzelnes Merkmal überstrahlt den Rest. Ist jemand besonders sympathisch oder hat einen beeindruckenden Lebenslauf, neigen wir dazu, auch andere (unabhängige) Eigenschaften positiv zu bewerten. Eine Person bekommt soz. eine Art Heiligenschein (Halo“) verpasst. Das Gegenteil passiert übrigens beim sogenannten Horn-Effekt.
4. Barnum-/Forer-Effekt
„Du bist manchmal unsicher, aber in schwierigen Zeiten zeigst du Stärke.“ Auch wenn diese Aussage auf viele zutrifft, empfinden wir sie oft als individuell passend, da wir dazu neigen, vage und vermeintlich allgemeingültige positive Formulierungen über die eigene Person als zutreffend zu akzeptieren. Die Bezeichnung „Barnum-Effekt“ leitet sich übrigens von Zirkusbetreiber und „Greatest Showman“ Phineas Taylor Barnum ab, dessen Shows u.a. deshalb so erfolgreich waren, weil sie im wahrsten Sinne „für jeden Geschmack etwas im Programm“ hatten…
Das soll nur einmal an einer kleinen Auswahl zeigen, an welchen Stellen Biases im Kontext der Personalauswahl eine Rolle spielen.
Biases im Kontext von KI: Fluch und Segen
Vielfach wird heute argumentiert, dass KI in der Lage ist, Biases zu überwinden, da sie „per Definition“ frei von menschlicher Subjektivität sei. Nun, diese Vorstellung ist naiv. Den KI basiert immer auf Trainingsdaten und kann (und wird in aller Regel) daher auch Verzerrungen und Biases in sich tragen. Wir haben uns hier ja bereits mit Biases im Kontext von KI beschäftigt und dazu kürzlich einen Artikel veröffentlicht. Dieser zeigt, wie KI menschliche Biases widerspiegelt: Fotos derselben Person wurden analysiert, und äußere Merkmale wie Kleidung beeinflussten die Bewertung stark. Der Grund: KI lernt aus voreingenommenen Daten und reproduziert diese Vorurteile. Sie „erkennt“ nichts, sondern rät basierend auf Wahrscheinlichkeiten, die oft menschliche Verzerrungen abbilden. Bedeutet: KI ist von sich aus nicht weniger voreingenommen als Menschen. Aber sie kann möglicherweise vorhandene Biases sichtbar machen und so im Zusammenspiel mit menschlicher Sicht am Ende evtl. zu weniger verzerrten Bewertungen beitragen.
Wie können wir Biases minimieren?
Biases zu vermeiden, ist praktisch unmöglich. Wichtig ist, dass wir sie erkennen und lernen, damit umzugehen. Ob im Alltag, im Beruf oder in der Personalbeurteilung:
Bewusstsein ist der erste Schritt. Und der zweite? Strukturierte, wissenschaftlich fundierte Testverfahren, die unseren Entscheidungen eine solide Basis geben. Ziel ist es dabei nicht, den Menschen zu ersetzen, sondern Entscheidungsprozesse zu ergänzen und zu verbessern. Damit wird Recruiting nicht nur fairer, sondern auch effektiver.
Ein Beispiel: Einem kognitiven Leistungstest wie dem QualiMatcher ist es völlig egal, ob eine sich bewerbende Person männlich, weiblich oder divers ist, ob diese in Bayern oder Bremen zur Schule gegangen ist, Fußball oder Hockey spielt oder eine 1- oder 4+ in Mathe hatte. Die Bewertung erfolgt ausschließlich auf Basis der gezeigten Leistung.
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Bisher in der Artikelreihe „Eignungsdiagnostik kompakt“ erschienen:
🔟 Bias – Warum wir uns täuschen. Und wie wir es besser machen können.
https://blog.recrutainment.de/2025/02/09/eignungsdiagnostik-kompakt-bias-warum-wir-uns-taeuschen-und-wie-wir-es-besser-machen-koennen/
9️⃣ Was sagen Noten über Intelligenz? Und sind sie ein guter Prädiktor für Berufserfolg?
https://blog.recrutainment.de/2025/02/04/was-sagen-noten-ueber-intelligenz-und-sind-sie-ein-guter-praediktor-fuer-berufserfolg/
8️⃣ Hobbies und ihre Relevanz in der Bewerbung…
https://blog.recrutainment.de/2024/11/24/eignungsdiagnostik-kompakt-hobbies-und-ihre-relevanz-in-der-bewerbung/
7️⃣ Was ist eigentlich…? Heute: (berufsbezogene) Persönlichkeitstests im Recruiting: Mehr als nur ein Buzzword?
https://blog.recrutainment.de/2024/10/28/eignungsdiagnostik-kompakt-was-ist-eigentlich-heute-berufsbezogene-persoenlichkeitstests-im-recruiting-mehr-als-nur-ein-buzzword/
6️⃣ Wie lässt sich die Qualität des Recruitings „beziffern“? Das Brogden-Cronbach-Gleser-Modell…
https://blog.recrutainment.de/2024/10/18/eignungsdiagnostik-kompakt-wie-laesst-sich-die-qualitaet-des-recruitings-beziffern-das-brogden-cronbach-gleser-modell/
5️⃣ Was ist eigentlich…? Heute: Kognitive Fähigkeitstests
https://blog.recrutainment.de/2024/09/25/eignungsdiagnostik-kompakt-was-ist-eigentlich-eine-heute-kognitive-faehigkeitstests/
4️⃣ Was ist eigentlich ein(e)…? Heute: Die Arbeitsprobe
https://blog.recrutainment.de/2024/08/12/eignungsdiagnostik-kompakt-was-ist-eigentlich-eine-heute-die-arbeitsprobe/
3️⃣ Eignungsdiagnostik kompakt – Heute: Integritätstest
https://blog.recrutainment.de/2024/07/23/eignungsdiagnostik-kompakt-heute-integritaetstest/
2️⃣ Was ist eigentlich ein…? Heute: Das Strukturierte Einstellungsinterview
https://blog.recrutainment.de/2024/07/17/was-ist-eigentlich-ein-heute-das-strukturierte-einstellungsinterview/
1️⃣ Warum wir Intelligenz nicht mit dem Lineal und Persönlichkeit nicht mit dem Thermometer messen können. Erläuterungen zur „klassischen Testtheorie“.
https://blog.recrutainment.de/2024/01/18/warum-wir-intelligenz-nicht-mit-dem-lineal-und-persoenlichkeit-nicht-mit-dem-thermometer-messen-koennen-erlaeuterungen-zur-klassischen-testtheorie/