Remote Assessment: Wenn man Bewerber (auch wegen Corona) nicht mehr persönlich trifft

Tja, wir haben Mitte Dezember und Corona wütet schlimmer als jemals zuvor. Von daher ist es für jedwedes abschließendes Résumé, welche Auswirkungen die Pandemie denn auf das Recruiting hatte, natürlich noch viel zu früh. Wir stecken ja noch mittendrin.

Als die ganze Malaise im Frühjahr losging, hatte ich einmal ein paar Überlegungen angestellt, welche Auswirkungen das Ganze denn möglicherweise haben könnte, wie die Personalgewinnung möglicherweise nach Corona aussehen mag.

Für manche der Prophezeiungen ist die Beweislage noch etwas dünn, auch wenn es zumindest Indizien gibt, die mir sagen, dass ich damit nicht so falsch gelegen habe. Das gilt etwa für den steigenden Stellenwert von Berufen im Sozialwesen, der sich inzwischen ja sogar in Zahlen bemessen lässt.

Für andere Entwicklungen jedoch ist die Beweislage eindeutig. Jeder kann diese jeden Tag sehen und am eigenen Leib spüren. Und dazu zählt der Schub, den das Thema “Remote Recruiting” durch die Pandemie bekommen hat. KandidatInnen können nicht mehr zum persönlichen Termin ins Unternehmen eingeladen werden und automatisch ist man bei der Frage, wie man das Recruiting über die Distanz bzw. ohne direkten Kontakt hinbekommen kann.

Der Trend hierzu war zwar auch in den vergangenen Jahren schon deutlich sichtbar – Videointerviews, Online-Assessments etc. sind ja keine Erfindungen aus 2020 – aber die Corona-Krise hat nochmal ordentlich Extraschub erzeugt. Man könnte sagen: Die Digitalisierung hat hier mindestens zwei Stufen auf einmal genommen.

Im Kern steht dabei natürlich immer die Frage:

Wie kann man eine Bewerberin oder einen Bewerber bewerten, wenn man diese nicht persönlich treffen kann?

Von daher kann man die Kernfrage auch auf das Thema Remote Assessment verdichten.

Eine Bewerbung, die kam auch vor Corona schon kontaktlos ins Haus. Und diese zu lesen und zu bewerten, dazu brauchte man auch vor Corona keinen physischen Kontakt mit der oder dem BewerberIn.

Aber die Bewertung, ob die Person auch die gewünschten und erforderlichen Eigenschaften und Fähigkeiten für die zu besetzende Stelle hat, ob hinreichende Passung (auch kulturell) vorliegt, diese Bewertung war für viele Personaler immer noch zwingend damit verbunden, der Bewerberin/dem Bewerber die Hand zu schütteln, ihr oder ihm in die Augen zu sehen. Sprich: die Person zu “treffen”.

Da das aber nun nicht mehr ging und so bald wahrscheinlich noch nicht wieder gehen wird, sind es insbesondere drei Themen, die im letzten Dreivierteljahr deutlich zugelegt haben:

Videointerviews aller Orten

Das Interview war, ist und bleibt das Herzstück eines Recruitingprozesses. Eine Entscheidung für eine Person, ohne sich mit dieser mindestens einmal unterhalten zu haben, ist schwer vorstellbar. Und da für viele dazu auch gehört, denjenigen zu sehen, hat sich das Interview 2020 in Windeseile dahin verlagert, wo wir alle sowieso im Moment die meiste Zeit verbringen: Vor den Bildschirm.

Natürlich hat das speziellen Diensten wie Cammio oder viasto Wind unter die Flügel gegeben, aber vor allem – dem Pragmatismus sein Dank – wurden die omnipräsenten Video-Conferencing Tools wie Zoom, Teams, Starleaf, Webex, GoTo, Whereby, Jitsi und wie sie alle heißen nun auch für Bewerberinterviews genutzt.

Klar, ein solches Interview ist nicht 1:1 das gleiche wie eines von Angesicht zu Angesicht in 3D. Es fehlt der berühmte “Händedruck”. Aber das ist aus diagnostischer Sicht eine nicht nur schlechte Entwicklung, um es mal vorsichtig auszudrücken. ;-)

Videointerviews erzwingen beinahe schon etwas mehr Standardisierung in der Durchführung, eine jahrzehntealte Forderung der Eignungsdiagnostik. Von anderen ökonomischen Vorteilen (flexiblere Terminfindung, dezentrale Durchführbarkeit, kein Reiseaufwand und -kosten und nicht zuletzt weniger CO2…) ganz zu schweigen.

Es sind natürlich neben den methodischen Aspekten ein paar Dinge zu beachten, die man bei Offline-Interviews so nicht kannte (z.B. Datenschutz), aber das ist alles lösbar. Tipps und Hinweise, was bei Video-Interviews zu beachten ist, hat gestern gerade erst der geschätzte Marcus Reif in seinem Blog veröffentlicht.

Und so verwundert es auch nicht, dass mit der DIN SPEC PAS 91426 nun ausgerechnet 2020 so etwas wie eine Richtschnur für “gute Videointerviews” gibt oder dass das Forum Assessment seine inzwischen ja auch schon zwölf Jahre alten “Interview Standards” dieses Jahr um das Thema Videointerviews erweitert hat (auch wenn diese erst kommendes Jahr bei der Mitgliederversammlung beschlossen und veröffentlicht werden).

Meine Prognose: Ja, wir werden uns wieder öfter “in echt” sehen, wenn wir wieder dürfen. Aber Videointerviews werden ein ganz normaler Baustein im Methodenmix des Recruitings sein. Und bleiben.

Online-Tests, Online-Assessments bei Unternehmen aller Größenordnungen. Und für neue Zielgruppen

Nein, natürlich sind Online-Tests keine Corona-Erfindung. Diese gab es schon vorher und deren Bedeutung ist auch in den letzten Jahren a. deutlich und b. kontinuierlich gestiegen.

Corona hat diese Entwicklung aber noch einmal stark katalysiert.

Und dabei waren und sind es gar nicht so sehr die großen Unternehmen, die Konzerne, die dieses Thema dieses Jahr für sich entdeckten. Es sind insb. die mittelständischen und in sehr starkem Maße kleine Unternehmen, die vermehrt Online-Assessments nachfragen.

Die meisten großen Unternehmen haben nämlich bereits über die letzten Jahre oder sogar Jahrzehnte Online-Assessments in ihre Auswahlprozesse integriert, meist vor allem getrieben durch ein Mengenargument: “Wir bekommen x-hundert oder -tausend Bewerbungen für Ausbildungsplätze oder Traineeprogramme und brauchen ein Instrument, um diese valide und ökonomisch vorzuselektieren.” So oder ähnlich war hier oft die Argumentation.

Das Argument der mittleren oder kleinen Unternehmen lautet aktuell hingegen oft eher: “Wir brauchen ein Instrument, um die Bewerber und Bewerberinnen überhaupt beurteilen zu können. Wir können sie ja nicht mehr einladen, um sie vor Ort zu testen. Und wir brauchen dieses Instrument SOFORT…!”.

Dass ein Unternehmen anruft und berichtet, dass es zwar nur 50 Bewerbungen im Jahr zu bearbeiten hat, aber dennoch gern einen Online-Test einsetzen möchte, um diese zu bewerten, ist überhaupt nichts ungewöhnliches mehr. Man könnte sagen, das Thema Online-Assessment hat sich “demokratisiert”…

Um speziell dieses Kundenklientel bedienen zu können, haben wir bereits über die letzten Jahre begonnen, schnell einsatzbereite und kostengünstige “Out-of-the-Box” Online-Assessments zu entwickeln, was sich für Corona als echter Glücksgriff entpuppte. Denn ob nun ein Unternehmen 50 Azubi-BewerberInnen auf kognitive Leistungsfähigkeit, 10 Trainee-BewerberInnen auf berufsbezogene Persönlichkeit oder 5 Führungskräfte auf Problemlösekompetenz testen will, für all das gibt es Tests, die soz. per sofort ihren Dienst tun können, zu sehr überschaubaren Kosten.

Auch höre ich dabei sehr oft Sätze wie “wir hatten das eh irgendwann vor, aber durch Corona müssen wir es eben jetzt tun”.

Dass es zudem nun auch Messinstrumente gibt, die valide den Cultural Fit messen können, hat weitere Argumente dafür geliefert, dass nicht mehr jedes Merkmal ausschließlich im Gespräch überprüft werden muss.

Eine zweite sehr spannende Beobachtung: Online-Assessment stößt in den Blue-Collar-Bereich vor und ist kein reines “Nachwuchs-Zielgruppen”-Instrument mehr. Früher war es irgendwie herrschende Meinung, dass man auf jeden Fall nur junge Menschen einem Test aussetzen kann, seniorerem Klientel waren diese nicht “zuzumuten”. Und es war auch klar, dass man ja nur solche BewerberInnen testen kann, die irgendwie “Bürojobs” machen sollen.

Tja, ersteres war sowieso eine sehr deutsche Marotte, im angelsächsischen Raum oder in Asien gab es diese Befindlichkeiten nicht. Aber dieses Akzeptanzproblem scheint sich nun auch hierzulande sukzessive auszuwachsen, was wahrscheinlich auch mit zunehmender Verbreitung zu tun hat. Menschen, die vor 10 Jahren für ihr Traineeprogramm online getestet wurden und nun in der Verlosung für die Beförderung auf eine Bereichsleitung sind, warum sollten diese ein Problem damit haben, dafür auch einen Online-Test zu absolvieren?

Und auch für die Öffnung des Themas Online-Assessment für Blue Collar Jobs hat 2020 tolle Beispiele geliefert. Ich erinnere hier nur an den “JobCheck“, mit dem die Deutsche Post DHL Ende 2020 in einem Zeitraum von gerade einmal gut zwei Monaten mal so eben bummelige 40000 BewerberInnen für einen Job als ZustellerIn getestet und vorausgewählt hat.

Die Logistik ist ja aufgrund des E-Commerce Booms in diesem Jahr ebenfalls eine Branche mit massiv gestiegenem Rekrutierungsbedarf (auch eine meiner Prognosen aus dem Frühjahr) und insofern auch dem Remote Assessment gegenüber in 2020 mehr als offen gegenüber gewesen.

Remote Assessment Center

Ich kann mich ein Gespräch mit Prof. Werner Sarges vor wahrscheinlich bald zwanzig Jahren erinnern, in dem er mir sagte, dass zu einem Assessment Center definitorisch die physische Zusammenkunft von Assessor und Assessee, also Beobachter und Kandidat, gehöre. Denn im Gegensatz etwa zu einem Test, gehören zu einem Assessment Center jede Menge beobachtungsbasierte Beurteilungen. Wir haben wahrscheinlich in der Folge auch deshalb immer den Begriff “Online Assessment Center” versucht zu vermeiden, wenn wir beschrieben haben, was CYQUEST genau macht und es stattdessen nur als Online-Assessment bezeichnet. Ohne “Center”.

Nun, es scheint als wenn diese definitorische Grenze nicht mehr wirklich zu halten ist. Ja, ein Assessment Center ist und bleibt ein im Wesentlichen auf Beobachtungsbeurteilungen basierendes Bewertungs- und Auswahlinstrument. Aber die physische Zusammenkunft, die braucht man dafür wohl nicht mehr.

Am langen Ende lässt sich vielleicht am Horizont eine Entwicklung erahnen, bei der wir irgendwann in der Zukunft quasi “physisch zusammenkommen”, ohne dabei wirklich kohlenstofflich am selben Ort sein zu müssen. Die Technik für solche HoloDecks gibt es längst, sie ist nur noch sehr aufwendig und wenig verbreitet. Wer sich hierfür interessiert, dem empfehle ich diesen Artikel zur “Holoportation“.

Aber soweit muss man gar nicht gehen. 2020 hat auch hier sehr pragmatische und griffige Lösungen hervorgebracht, wie man mit bestehenden und verbreiteten Mitteln sehr wohl Assessment Center über die Distanz, also Remote Assessment Center durchführen kann.

Ein sehr anschauliches Beispiel lief mir im August über den Weg und stammte von der zur OTTO Group gehörenden BAUR Gruppe.

Alles neu – Assessment-Center im Jahr 2020

Diese verlagerte ihren Auswahltag für Azubis kurzerhand in Microsoft Teams und führte dort all das mit den KandidatInnen durch, was sonst auch im AC drankam: Unternehmenspräsentation, Speed-Dating, Gruppenübungen etc.

Eigentlich alles naheliegend. Ich bin mir aber sicher, ohne Corona hätte man diesen Schritt ganz sicher nicht gewagt.

Fazit:

Nein, noch sind weder 2020 noch die Corona-Krise vorbei. Beide halten bestimmt noch die eine oder andere Überraschung bereit. Und wenn wir diese dann doch hoffentlich irgendwann mal überwunden haben, dann wird man natürlich auch das eine oder andere Pendel wieder zurückschwingen sehen. Viele werden zum Beispiel sehr froh sein, sich überhaupt wieder in echt sehen zu dürfen und es allein deswegen erstmal wieder sehr gern tun.

Aber wir werden während der Krise so viele Erfahrungen mit verschiedenen Methoden des Remote Assessments gesammelt haben und dabei auch viele der unzweifelhaft vorhandenen Vorzüge kennen- und schätzengelernt haben, dass diese zukünftig zu ganz normalen Bausteinen des Recruitings geworden sein werden. Oder glaubt ernsthaft jemand, dass im Sommer 2021 noch irgendwer sich hinstellen können wird und behaupten, dass man mit einem Bewerber nur dann ein richtiges Gespräch führen kann, wenn dieser vor einem sitzt…?

Das – und noch vieles mehr – wird bleiben.

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Dieser Artikel ist übrigens ein Beitrag zu der Blogparade “Recruiting Learnings durch Corona” des von mir überaus geschätzten Kollegen Tim Verhoeven, in deren Rahmen sich eine ganze Reihe weiterer BloggerInnen ein paar Gedanken zu Recruiting in diesen speziellen Zeiten gemacht haben oder noch machen werden.

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