Zwei Dinge vorweg:
Erstens: Ich spreche bewusst von „Personalgewinnung“, weil ich damit sowohl Employer Branding und Personalmarketing als auch Recruiting meine. Diese drei Dinge gehören untrennbar zusammen. Das war auch schon vor Corona so, gilt aber vielleicht für die Zeit danach desto mehr.
Zweitens: Auch wenn hier die Frage nach dem „danach“ gestellt wird. Ein „danach“ wird es so schnell gar nicht geben. Das ganze Schlamassel kam zwar gefühlt „Jetzt auf Gleich“ über uns (auch wenn natürlich jetzt wieder sehr viele Neunmalschlaue rückblickend alles schon viel früher und vor allem besser wussten), aber es wird nicht auf einen Schlag wieder „weggehen“. An solche Wunder glauben nur Märchenonkel wie der amtierende US-Präsident. Nein, es wird Stück für Stück wieder zu einer Normalität zurückgehen. Und diese Normalität wird eine andere sein als vorher. Nicht unbedingt schlechter, aber ziemlich sicher anders…
Wie könnte die „neue Normalität“ in der Personalgewinnung aussehen? Was kommt nach Corona?
Ich sehe hier vor allem vier Entwicklungen:
A. Machtverschiebung auf dem Arbeitsmarkt zurück zu den Unternehmen. Oder doch nicht?
Nun, ich glaube ein allzu großer Prophet muss man dafür nicht sein: Zunächst einmal werden viele Unternehmen auf den Vorsichtsmodus schalten. Solange die Belegschaften auf Kurzarbeit sind, wird man sicher nicht aus allen Rohren feuern, wie man das vorher im War for Talent tat. Und selbst wenn sich die ganz akute Situation wieder ändert und die Wirtschaft wieder hochfährt, werden viele Unternehmen erst einmal abwartender sein, was die Personalrekrutierung angeht. Vielleicht basierte die alte Personalplanung ja auf Auftragsprognosen von Kunden, die nun selber erstmal auf Abwarten schalten usw.
Das wird ziemlich sicher dazu führen, dass wir vorerst wohl weniger vom War for Talent als doch wieder eher vom War for Jobs hören werden. Machtverschiebung zurück vom Kandidaten zum Unternehmen inklusive. Das Mantra, dass dem Bewerber immer der rote Teppich ausgerollt werden müssen („jede Hürde im Auswahlprozess muss weg“) wird erstmal wieder dem „Bewerber können wir uns aussuchen“ bzw. „wer den Job will, der muss schon über das Stöckchen springen“ weichen.
Insbesondere für die sog. GenZ wird das eine doch sehr neue Erfahrung sein, kannte diese Altersgruppe doch aufgrund des mittlerweile mehr als zehn Jahre andauernden Aufschwung so etwas gar nicht. Oder zumindest nicht in dem Maß, wie die älteren Generationen, für die „Arbeitslosigkeit“ jahrzehntelang das allgegenwärtige Schreckgespenst war. Vielleicht lässt diese „neue“ Erfahrung uns irgendwann rückwirkend dann von einer „Generation Corona“ sprechen…
Aber:
Das ist natürlich nur eine Tendenzaussage, denn genauso wenig, wie die Welt vorher strahlend weiß war, ist sie nun pechschwarz. „Den“ Fachkräftemangel gab es vor Corona auch nicht. Und so wird es nun auch nicht „den“ Jobmangel geben.
So leid es mir tut, man wird weiter differenzieren müssen.
Manche Branchen, die es sich in der Vergangenheit vermeintlich leisten konnten, ein etwas höheres Ross zu reiten, werden zukünftig wahrscheinlich kleinere Brötchen backen. Oder wer glaubt, dass die Luftfahrt so schnell wieder das Niveau von vorher erreichen wird? Und stellt nicht vielleicht auch der eine oder andere gerade fest, dass man das sechste Paar neue Sneakers in einem Jahr dann möglicherweise doch gar nicht so dringend braucht? Auch Mode- und Luxusgüterindustrie dürften nicht zu den Krisengewinnern zählen.
In diesen Branchen wird es weniger Jobs geben. Aber diese Branchen werden auch weniger attraktiv für Bewerber sein als vorher.
Andere Branchen hingegen, die bislang oft hinten anstanden, werden deutlich aufgewertet aus der Krise hervorgehen – öffentlicher Dienst, Versorger, Gesundheit, Pflege, Betreuung, Logistik usw..
Diese Branchen stellen ihren „Purpose“ gerade eindrucksvoll unter Beweis. Hier wird sicherlich zukünftig mehr Geld hinfließen und möglicherweise alles etwas weniger unter das strenge Diktat der Ökonomisierung gestellt. Ich wage die Prognose, hier werden zukünftig mehr Stellen zu besetzen sein, vor allem aber werden diese anerkannter und besser dotiert werden.
Und mehr Bewerber anziehen…? Wahrscheinlich schon.
Zweitens: Auch Corona hebelt nicht die langfristige demografische Entwicklung aus. Unternehmen, die sich nun erstmal zurücklehnen in der Hoffnung, dass sie nun wieder bequem wie eine Lottofee die glücklichen Bewerber aus dem prallvoll gefüllten Wäschekorb ziehen können, werden schnell feststellen, dass sie sich keineswegs ausruhen können. Nur ein Beispiel: Einige Bundesländer haben wieder auf G9 umgestellt, d.h. da fehlt dann mal so eben ein ganzer Jahrgang Abiturienten…
Drittens: Den Effekt, dass Produktionen, die in den letzten Jahren ins Ausland verlagert wurden (meist nach Fernost) wieder zurück nach Deutschland geholt werden – das sog. „Onshoring“ kann aktuell sicher noch niemand abschließend beziffern. Es ist nur sehr wahrscheinlich, dass es ihn geben wird. Denn Länder wie Deutschland stellen gerade schmerzhaft fest, dass es gelinde gesagt „unschön“ ist, wenn man keine Atemschutzmasken für die eigene Bevölkerung hat, es aber auch keinen Hersteller mehr dafür im Lande gibt. Von gekappten Fertigungsketten mal ganz zu schweigen. Und Onshoring wird zu Jobs im Inland bzw. Nachfrage nach dazugehörigen Arbeitskräften führen…
B. Die Stunde der „Werte“
Wie sagte der Bundespräsident kürzlich? Die Krise fördert das Beste in uns zutage. Aber auch das Schlechteste. Das gilt ganz sicher auch für Unternehmen.
Wie geht man mit Mitarbeitern um? Wie mit Lieferanten, Kunden, Dienstleistern, Kooperationspartnern? Man kann gerade in Krisenzeiten immer ganz gut erkennen, wie es hier um die Werte der Unternehmen steht. Ist man integer oder nur am Zweck ausgerichtet? Zählt eher die Ich- oder die Wir-Orientierung? Unternehmen, die hier Haltung zeigen und Werte vorleben, und zwar gerade nicht als Teil der Sonntagsrede, sondern als Teil des Krisenmanagements, die funken wichtige positive Signale nach innen und außen.
In Hochzeiten großzügig zu sein ist einfach. Wer sich in Krisen solidarisch, hilfsbereit und unterstützend zeigt, schafft nachhaltig Vertrauen – auch in die Arbeitgebermarke.
Ich bin mir sicher, dass viele Unternehmen diese „Wertekarte“ im Employer Branding spielen werden. Aber es werden sich nicht alle auch glaubwürdig darauf berufen können.
Und ganz nebenbei werden sowohl Arbeitgeber sowie Berufsbilder, bei denen Werte quasi zur DNA gehören, einen enormen Attraktivitätsschub erfahren.
C. Die Digitalisierung nimmt zwei Stufen auf einmal
Auch schon vor Corona war Digitalisierung der Megatrend und saß bei allem, was die Unternehmen so taten mit am Tisch. Das Thema ist also nicht neu. Aber die Krise ist ein enorm starker Katalysator und sorgt für eine enorme Beschleunigung dieser Themen.
Wir bekommen aktuell 2-4 Anfragen am Tag, die sich auf Online-Assessments beziehen. Klar, wenn man Bewerber nicht mehr zum Vor-Ort-Termin einladen kann, dann braucht man andere Formen der Bewertung, Stichwort „Remote Recruiting“. Wer glaubt denn bitte heute noch ernsthaft, dass etwa vor Ort durchgeführte Pen&Paper-Tests ein praktikabler Weg für ein Bewerber-Assessment sind? Oder dass Interviews auf jeden Fall mit einem persönlichen Treffen einhergehen müssen, weil man die Eignung ja nur verlässlich am Händedruck erkennen kann?
Aktuell sind diese Formen der Kandidaten-Beurteilung aus bekannten Gründen quasi ausgeschlossen. Aber auch wenn die Kontaktreduzierungen wieder aufgehoben sind (was nebenbei nur in Schritten passieren und sich entsprechend lange hinziehen wird), wird man ja kaum ernsthaft verargumentieren können, dass man wieder auf analog zurückschaltet.
Klar, nicht alles was vorher mal analog war, wird nach der Corona-Krise zu 100% digital sein. Aber es wird deutlich mehr sein als vorher. Da lege ich mich fest.
D. New Work – der Geist lässt sich nicht wieder in die Flasche sperren
Ein ganz wichtiges Thema… Ich hatte ja vor schon vor etwas mehr als einem Monat prophezeit, dass Corona wohl – wenn auch unfreiwillig – zum größten Feldversuch in New Work aller Zeiten führen dürfte.
Nun, das große Fass will ich hier nicht aufmachen, weil ich mich hier auf die Personalgewinnung fokussieren möchte. D.h. mir geht es hier weniger um die Frage, wie nach Corona die Arbeit insgesamt organisiert sein wird, sondern um die grundsätzliche Haltung, die Unternehmen und Mitarbeiter zu Themen wie Vertrauensarbeitszeit, Remote Work, Entscheidungsautonomie usw. einnehmen werden. Denn das sind zentrale Themen der Personalgewinnung.
All dies wird sich nach Corona nicht einfach wieder in die Flasche zurücksperren lassen. Die Unternehmen realisieren, dass das doch durchaus funktionieren kann und Mitarbeiter (bzw. auch Bewerber) werden es entsprechend zukünftig auch noch viel stärker einfordern.
Berufsbilder und konkrete Tätigkeiten werden sich entsprechend ändern. Folglich müssen Berufsbilder und Tätigkeiten auch anders beschrieben und vermarktet werden – ein konkretes ToDo für das Personalmarketing.
Und im Recruiting wird man entsprechend auch auf andere Einstellungen und Skills schauen müssen.
Unternehmenskulturen werden sich im Zeitraffer in diese Richtungen verschieben.
Ich meine nicht „das“ Homeoffice an sich – das ist im Sinne des Schein´schen Ebenenmodells nur ein Artefakt, ein „sichtbares Ende“ der Unternehmenskultur -, nein ich meine die dahinterliegenden Werte wie Vertrauen, Autonomie, Distanz/Nähe, Work-Life-Blend usw.
Es wird sich nicht nur die Arbeit an sich stark verändern, sondern auch wie wir das Personal gewinnen für diese sich verändernde Arbeit.
Recruiting 2030: Über Bots und Algorithmen (und durch Corona!) zu einer „neuen Menschlichkeit“?
Ich habe vor ein paar Jahren unter der Überschrift „Recruiting 2030“ einmal einen Blick in die Glaskugel gewagt, wie denn die Personalgewinnung der Zukunft aussehen könnte. Die These – ganz kurz gesagt:
Steigende Bedeutung der Selbstselektion, stärkere Personalisierung, mehr individualisiertes Matching, größere Bedeutung von Werten und erheblich mehr Digitalisierung führen zu „mehr Menschlichkeit“ in der Personalgewinnung.
Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet ein so kleines Virus all diesen Themen so beschleunigen würde…
Hallo Jo!
Ich unterschreibe das allermeiste, was Du im Artikel benennst…
An 2 Punkten grüble ich etwas:
1. New work
Für viele Unternehmen und Führungskräfte dürfte die absolute Dezentralisierung und der Kontrollverlust durch das verordnete Homeoffice und fehlende Kompetenz/Übung in Führung auf Distanz ein Schock sein. Ich rechne damit, dass wir nach der Rückkehr zur „Normalität“ (was auch immer das in diesem Zusammenhang sein mag) viele Rückzugsgefechte sehen werden – im Versuch, möglichst viel von der alten Welt zu retten bzw. zurückzuholen. Auf diese dann aufbrechenden Wertekonflikte bin ich sehr gespannt- sofern wir einen deutlich eingetrübten Arbeitsmarkt sehen werden (oder auch nicht), wird das recht kurzweilig, wie sich Unternehmen und Mitarbeiter dann arrangieren.
2. Der Fachkräftemangel
Du hast vollkommen recht – den wird es weiter geben, wenn auch anders akzentuiert. In der Diskussion liest man zudem die Erwartung, dass Deutschland in grosser Zahl wieder Produktion aus Asien zurück nach Deutschland holen wird. Unabhängig davon, dass ich daran noch nicht so recht glauben mag – diesen zusätzlichen Fachrkräftebedarf, den das mit sich brächte, hat aktuell wohl noch niemand auf der Rechnung.
Hallo Jo,
toller Beitrag. Ich stimme Dir komplett zu und teile ebenso die Gedanken von Stefan. Es wird eine Zukunft geben, die anders ist. Ein bisschen wie gestern (zunächst teilweise Arbeitgebermarkt, Wertschätzung von „systemrelevanten“ Branchen, Onshoring), ein bisschen wie morgen (New Work, Digitalisierung). Aber sicher nicht so, wie das heute vor der Krise.
Viele Grüße,
Bernd
„Wer sich in Krisen solidarisch, hilfsbereit und unterstützend zeigt, schafft nachhaltig Vertrauen – auch in die Arbeitgebermarke.“
Wer, lieber Jo, wer. Das ist genau der Punkt. Momentan erlebe ich viele Unternehmen, die ihre Mitarbeiter komplett im Regen stehen lassen und zeigen, dass ihre „Arbeitgebermarke“ nicht das Klopapier wert ist, was viele so emsig zu Hause horten. Guter Beitrag, danke für deine Gedanken!
Ja Henner, wie üblich werden es die meisten nicht hinbekommen und sehr viel des CSR-Gefasels aus den guten Zeiten wird demaskiert als das was es war: leeres Gefasel. Aber es wird auch welche geben, die ihren Mitarbeitern, Kunden, Dienstleistern, Lieferanten das Gefühl geben, dass es gemeinsam geht. Ich versuche das im kleinen mit meinem Unternehmen, ich erlebe es aber durchaus auch bei verschiedenen unserer Kunden (sowohl Kommunikation und Umgang mit der Belegschaft, als auch z.B. Umgang mit uns). Ich glaube schon daran, dass das eine Art „Nach-Corona-Employer Branding-Dividende“ abwerfen wird. Oder einfacher: „sich lohnt“. Unabhängig davon, dass es auch was mit Anstand und guter Kinderstube zu tun hat… ;-)