Arbeitszeugnisse haben in der Personalauswahl eine lange Tradition. So hat gesetzlich verankert jede:r Arbeitnehmende nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Recht auf ein Arbeitszeugnis. Gleichzeitig sollen sie Arbeitgebenden bei der Personalauswahl als Orientierungshilfe bezüglich Qualifikation und Leistung der Bewerbenden dienen.
Nichtsdestotrotz sind Arbeitszeugnisse in den letzten Jahren medial in Verruf geraten und ihre Aussagekraft wird vermehrt angezweifelt. Das scheint vor allem daran zu liegen, dass Arbeitszeugnisse nicht nur wahrhaftig, sondern auch „wohlwollend“ formuliert werden müssen.
Aus dieser Wahrheits- und Wohlwollenspflicht ergibt sich ein scheinbarer Widerspruch.
Wie soll sinnvoll selektiert werden, wenn unklar ist, ob das Zeugnis die Wahrheit oder eine geschönte Form der Realität abbildet? Gleichzeitig wird in diversen Ratgebern und Artikeln eine gewisse Zeugnissprache thematisiert, welche von Personaler:innen genutzt würde, um geheime Botschaften über die ungeschönte Realität in den Arbeitszeugnissen zu verstecken. Unweigerlich ergibt sich daraus die Frage nach dem prognostischen Wert von Arbeitszeugnissen.
Einige empirische Studien geben Aufschluss über die Prozesse der Zeugniserstellung und -analyse. Eine Untersuchung aus dem Jahre 2016 zeigt beispielsweise, dass von 97 Zeugniserstellenden nur etwa die Hälfte auch tatsächlich systematisch dazu ausgebildet wurde. Das führt dazu, dass nicht nur unterschiedliche Formulierungen – also keine einheitliche Geheimsprache -, sondern sogar unterschiedliche Bewertungskriterien (2-17, M = 6.9 Kriterien) in die Zeugnisse eingebunden werden (Grau & Watzka, 2016).
Gleichzeitig werden verschiedenste, mehr oder weniger systematische Hilfsmittel verwendet. Die Top-Hilfsmittel einer Befragung von 119 Unternehmen sind folgende (Kanning, 2016):
- Vorgefertigte Textbausteine (75%)
- Das eigene Bauchgefühl (50%)
- Ratgeberliteratur (46%)
- Alte Zeugnisvorlagen (37%)
- Software (37%)
- Forschungsergebnisse (22%)
Es lässt sich also nur erahnen, wie variabel – vom Bauchgefühl geleitet bis zu forschungsbasiert – Arbeitszeugnisse aussehen können.
Somit sollte klar sein, dass es keine objektive Vorgehensweise in der Zeugniserstellung gibt. Da jedoch eine Vielzahl der Zeugniserstellenden die von der Literatur beschriebenen Notenskalen zu nutzen scheint, kann zumindest betont werden, dass hier nicht von einer „Geheimsprache“ gesprochen werden kann – denn jede:r kann die bestehenden Notenskalen mit der entsprechenden Literatur erlernen und übersetzen (Sende & Moser, 2017). In einer Stichprobe von 1150 Zeugnissen fand sich zudem kein Hinweis auf die Verwendung von verschlüsselten Botschaften (Sende, C. & Moser, K., 2017). Eine gewisse Unsicherheit über das fabrizierte Arbeitszeugnis besteht aber auch, trotz Verwendung der Textbausteine und literaturbasierten Notenskalen: Gerade einmal 50% schätzen die Aussagekraft der von ihnen erstellten Zeugnisse als hoch oder sehr hoch ein (Grau & Watzka, 2016).
Diese nun mehr oder weniger validen Zeugnisse sind natürlich das Objekt der Zeugnisanalyse. Und auch hier tun sich einige Tücken auf, welche der diagnostischen Aussagekraft nicht unbedingt zuträglich sind.
Die Untersuchung von 89 Zeugnisauswertenden zeigt auch hier, dass nur etwa die Hälfte für diese Tätigkeit geschult wurde (Grau & Watzka, 2016).
Die Folge? Ein und dasselbe Zeugnis wird von seinen Leser: innen ganz unterschiedlich bewertet. Hinzu kommt, dass 54% der Auswerter: innen das Arbeitszeugnis nur selektiv anstatt vollständig lesen und nicht mehr als 3 Minuten dafür aufwenden (Grau & Watzka, 2016). Gleichzeitig nutzen auch bei der Analyse nur 3% von 119 Befragten Kriterien zur Bewertung des oder der Bewerber: in. 66% entscheiden gänzlich frei über die Informationen, welche in die Beurteilung einfließen (Kanning, 2016).
Und was bedeutet das nun? Zuerst einmal, dass keine einheitliche Vorgehensweise zur Zeugniserstellung und -analyse besteht. Das heißt bei weiterem Betrachten aber auch, dass die diagnostische Aussagekraft der Arbeitszeugnisse zumindest in Frage gestellt werden sollte. Die Problematik von Wahrheit vs. Wohlwollen mal außenvor gelassen, scheint die unstrukturierte Herangehensweise bei Zeugniserstellenden und -analysierenden die Vergleichbarkeit der Bewerbenden auf ein Minimum zu reduzieren.
Zu betonen ist allerdings in diesem Rahmen auch, dass nicht alle Autor:innen ein solch negatives Urteil über den Wert der Arbeitszeugnisse in der Personalauswahl fällen. Im Rahmen ihrer Validierungsstudie betonen Sende und Moser (2017), dass die Arbeitszeugnisse in Deutschland durch die gesetzliche Verankerung und vielfache Gerichtsurteile zu einem gewissen Grad eben doch strukturiert seien und zum Untersuchungszeitpunkt noch dabei helfen, die Leistungsfähigkeit der Bewerber:innen zu differenzieren.
Tatsächliche Relevanz von Arbeitszeugnissen im Auswahlprozess
Ganz unabhängig vom diagnostischen Wert der Arbeitszeugnisse zeigt eine Personio-Umfrage aus dem Jahr 2018, dass unzureichende Arbeitszeugnisse bei 304 Personalentscheider: innen lediglich den letzten Grund für eine Ablehnung der Bewerber: innen darstellen. Sie stellen somit kein primäres Einstellungskriterium dar und scheinen nicht essenziell für jede Bewerbung.
Die geringe Relevanz der Arbeitszeugnisse für tatsächliche Personalauswahlentscheidungen spiegelt somit wider, was die empirische Datenlage vermuten lässt: Arbeitszeugnisse sollten mit Vorsicht betrachtet werden. Auch wenn sie zum aktuelle Zeitpunkt noch einen Wert für die Personalauswahl haben, könnte , wie von Sende und Moser (2017) betont, ein transparentes Beurteilungssystem mit klaren Kriterien zur Erstellung und Analyse von Arbeitszeugnissen dazu beitragen, dass neben weniger Unsicherheit in der Zeugnisanalyse, ein generell faireres Vorgehen für Arbeitnehmer:innen geschaffen würde, sodass die Informationen der Arbeitszeugnisse einen höheren prognostischen Wert haben und der Vergleich zwischen Bewerber:innen sinnvoll ist.
Dabei könnte es auch helfen, branchenspezifische Informationen, wie Hierarchiestufen oder die Mitarbeiterzahlen der Unternehmen zu berücksichtigen, um ein noch differenziertes Urteil treffen zu können (Sende & Moser, 2017).
Autorin: Stine Hollah
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Bisher in der Artikelreihe „Eignungsdiagnostik kompakt“ erschienen:
Bias – Warum wir uns täuschen. Und wie wir es besser machen können.
https://blog.recrutainment.de/2025/02/09/eignungsdiagnostik-kompakt-bias-warum-wir-uns-taeuschen-und-wie-wir-es-besser-machen-koennen/
Was sagen Noten über Intelligenz? Und sind sie ein guter Prädiktor für Berufserfolg?
https://blog.recrutainment.de/2025/02/04/was-sagen-noten-ueber-intelligenz-und-sind-sie-ein-guter-praediktor-fuer-berufserfolg/
Hobbies und ihre Relevanz in der Bewerbung…
https://blog.recrutainment.de/2024/11/24/eignungsdiagnostik-kompakt-hobbies-und-ihre-relevanz-in-der-bewerbung/
Was ist eigentlich…? Heute: (berufsbezogene) Persönlichkeitstests im Recruiting: Mehr als nur ein Buzzword?
https://blog.recrutainment.de/2024/10/28/eignungsdiagnostik-kompakt-was-ist-eigentlich-heute-berufsbezogene-persoenlichkeitstests-im-recruiting-mehr-als-nur-ein-buzzword/
Wie lässt sich die Qualität des Recruitings „beziffern“? Das Brogden-Cronbach-Gleser-Modell…
https://blog.recrutainment.de/2024/10/18/eignungsdiagnostik-kompakt-wie-laesst-sich-die-qualitaet-des-recruitings-beziffern-das-brogden-cronbach-gleser-modell/
Was ist eigentlich…? Heute: Kognitive Fähigkeitstests
https://blog.recrutainment.de/2024/09/25/eignungsdiagnostik-kompakt-was-ist-eigentlich-eine-heute-kognitive-faehigkeitstests/
Was ist eigentlich ein(e)…? Heute: Die Arbeitsprobe
https://blog.recrutainment.de/2024/08/12/eignungsdiagnostik-kompakt-was-ist-eigentlich-eine-heute-die-arbeitsprobe/
Eignungsdiagnostik kompakt – Heute: Integritätstest
https://blog.recrutainment.de/2024/07/23/eignungsdiagnostik-kompakt-heute-integritaetstest/
Was ist eigentlich ein…? Heute: Das Strukturierte Einstellungsinterview
https://blog.recrutainment.de/2024/07/17/was-ist-eigentlich-ein-heute-das-strukturierte-einstellungsinterview/
Warum wir Intelligenz nicht mit dem Lineal und Persönlichkeit nicht mit dem Thermometer messen können. Erläuterungen zur „klassischen Testtheorie“.
https://blog.recrutainment.de/2024/01/18/warum-wir-intelligenz-nicht-mit-dem-lineal-und-persoenlichkeit-nicht-mit-dem-thermometer-messen-koennen-erlaeuterungen-zur-klassischen-testtheorie/