Wer sich mit moderner Personalarbeit beschäftigt, kommt an einem Thema derzeit kaum vorbei: Die Arbeitswelt verändert sich und das längst nicht nur für Wissensarbeiter*innen im schicken Open Space mit Remote-Option. Während Begriffe wie New Work und hybrides Arbeiten in vielen HR-Diskussionen inzwischen gesetzt sind, gerät dabei eine riesige Beschäftigtengruppe schnell aus dem Blick: Mitarbeitende ohne festen Schreibtisch, oftmals unter dem Schlagwort „Blue Collar“ beschrieben sogenannte Deskless Worker.
Diese machen laut aktuellen Studien rund 70 bis 80 Prozent der weltweiten Erwerbsbevölkerung aus. Trotzdem drehen sich viele HR-Innovationen noch immer primär um die Bedürfnisse von Büroangestellten. Höchste Zeit also, auch die Arbeitsrealitäten von Produktionsmitarbeitenden, Pflegekräften, Zusteller*innen, Einzelhandelsbeschäftigten und Co. in den Fokus zu rücken.
Genau das tut das Buch „Deskless Work und Personalmanagement“ von Prof. Dr. Peter M. Wald, das vor kurzem im Springer Verlag erschienen ist.
Peter Wald, HR-Professor an der HTWK Leipzig und seit Jahrzehnten eine feste Größe im deutschen HR-Kosmos legt mit diesem Sammelband einen spannenden, sehr praxisorientierten Beitrag zur aktuellen Arbeitsdebatte vor. Der Band widmet sich der Frage, wie Flexibilisierung von Arbeit auch jenseits des Schreibtischs gelingen kann, also dort, wo physische Präsenz und Schichtsysteme bisher als eher „nicht verhandelbar“ galten.
Das Buch ist dabei kein klassisches Monografie-Werk, sondern ein Sammelband mit Beiträgen verschiedener Autor*innen aus Forschung und Praxis – darunter auch ein Kapitel von Joachim Diercks, unserem Gründer und Geschäftsführer (und ja, Betreiber dieses Blogs hier). Der Beitrag trägt den Titel:
„Wie können Berufsorientierungsspiele zur Gewinnung von Mitarbeitenden eingesetzt werden – speziell in gewerblich-technischen Berufen?“
In dem Kapitel wird ein Bereich beleuchtet, den wir seit vielen Jahren aktiv mitgestalten: Gamification in der Berufsorientierung. Die Grundfrage dabei: Wie kann man junge Menschen für Berufsfelder begeistern, die selten glamourös erscheinen, aber gesellschaftlich unverzichtbar sind?
Es wird aufgezeigt, wie realistische Self-Assessments, Online-Tests und interaktive Spielelemente dabei helfen können, gewerblich-technische Berufe sichtbarer, erlebbarer und attraktiver zu machen. Gerade in Bereichen wie Produktion, Lagerlogistik oder technischen Dienstleistungen können diese digitalen Tools ein wertvoller Hebel sein, um Interesse zu wecken, Erwartungen zu klären und realistische Selbstbilder zu fördern.
Der Beitrag basiert auf konkreten Beispielen aus unserer Arbeit u. a. mit der Porsche AG oder EDEKA. So wird gezeigt, wie Recrutainment-Elemente, die Information und spielerisches Erleben verbinden, dazu beitragen können, die Passung zwischen Bewerbenden und Beruf zu verbessern und gleichzeitig die Arbeitgebermarke positiv aufzuladen. Besonders wichtig: Diese Tools sind niedrigschwellig, mobil nutzbar und realitätsnah, was sie gerade für Zielgruppen ohne akademischen Hintergrund besonders geeignet macht.
Doch das Kapitel ist natürlich nur eines von vielen spannenden Beiträgen im Band. Die Themenvielfalt ist beeindruckend – einige Highlights:
Neue Modelle der Schichtplanung
Ein zentrales Thema des Buchs ist die Frage, wie Schichtarbeit neu gedacht werden kann. Die Beiträge zeigen, dass klassische Top-Down-Modelle zunehmend an ihre Grenzen stoßen, sowohl was die betriebliche Effizienz als auch die Mitarbeiterzufriedenheit betrifft.
Stattdessen gewinnen partizipative Planungsansätze, automatisierte Schichttools und Mitsprachemöglichkeiten an Bedeutung. Die vorgestellten Beispiele reichen von App-basierten Wunschdienstplänen bis zu selbstorganisierten Teammodellen mit dem Ziel, die oft gegensätzlichen Anforderungen von Betrieb und Belegschaft in Balance zu bringen.
Digitale Kommunikation und Partizipation
Gerade für Deskless Worker ist der Zugang zu Informationen und Mitgestaltungsmöglichkeiten oft begrenzt, sei es wegen fehlender Hardware, eingeschränkter Zugänge oder schlichtweg mangelnder Formate.
Mehrere Beiträge widmen sich daher dem sinnvollen Einsatz digitaler Tools speziell für Non-Desk-Zielgruppen: Intranet-Apps, Messenger-Lösungen, Feedback-Kioske oder interaktive Aushänge in Pausenräumen zeigen, wie Kommunikation dort funktioniert, wo weder Laptop noch E-Mail zur Grundausstattung gehören. Ziel ist ein echter Dialog auf Augenhöhe, nicht bloß Einweg-Kommunikation von oben nach unten.
Führung ohne Kontrolle – geht das?
Ein besonders spannender Aspekt: Führung jenseits des klassischen „Kontrollzimmers“.
Wie kann Vertrauen entstehen, wenn Führungskräfte und Mitarbeitende sich nicht täglich sehen? Welche Rolle spielen Werte, Haltung und Selbstorganisation in nicht-digitalisierten Arbeitskontexten?
Hier bieten die Beiträge praxisnahe Antworten u. a. durch Konzepte wie Vertrauenskultur, situative Führung oder die Förderung von Eigenverantwortung in der Fläche. Die Ergebnisse: Weniger Fluktuation, mehr Identifikation, bessere Leistung, wenn man Führung als Beziehung versteht, nicht als Kontrollinstrument.
Inklusives Employer Branding
Ein weiterer, oft unterschätzter Aspekt: Viele Arbeitgeberkommunikation richtet sich nach wie vor primär an Office-Zielgruppen mit einem starken Fokus auf Wissensarbeit.
Doch was ist mit der Mehrheit der Beschäftigten, die weder mit Headset noch MacBook arbeiten?
Das Buch macht deutlich: Ein glaubwürdiges Employer Branding muss alle Zielgruppen erreichen – auch und gerade die Deskless Worker.
Authentizität, Einfachheit und Nähe zum Arbeitsalltag sind hier entscheidend. Wer etwa in Stellenanzeigen zeigt, wie Arbeitskleidung aussieht, wie der Pausenraum gestaltet ist oder wie die Schichtübergabe abläuft, sendet klare Signale und spricht Menschen an, die sich in der üblichen HR-Sprache oft nicht wiederfinden.
Besonders hervorzuheben ist die konsequente Verzahnung von Theorie und Praxis: Interviews, Fallbeispiele und Erfahrungsberichte aus Unternehmen und Verwaltungen machen das Buch zu einem echten Fundus für alle, die nicht nur denken, sondern auch umsetzen wollen.
„Deskless Work und Personalmanagement“ ist ein wichtiger, inspirierender und praxisnaher Beitrag zur Weiterentwicklung moderner Arbeit. Der Band richtet sich an HR-Praktiker*innen, Organisationsentwickler*innen, Betriebsräte, Forschende – und an alle, die Arbeit nicht nur im Sitzen denken.
Gerade weil der Fokus konsequent auf den bislang oft übersehenen Non-Desk-Bereich gelegt wird, ist das Buch ein echter Eye-Opener.
Von uns gibt’s daher eine klare Leseempfehlung – natürlich auch, weil wir selbst einen Beitrag leisten durften. 😉
Eignungsdiagnostik im Bereich Blue Collar / Deskless Work
P.S. Übrigens: Weil uns bei CYQUEST das Thema und die Zielgruppe Deskless Worker auch schon länger recht intensiv umtreiben, haben wir einen speziell auf diese Zielgruppe zugeschnittenes Talent-Assessment-Tool entwickelt: CRAFT misst explizit wichtige Merkmale, die bei der Rekrutierung oder Entwickelt von Deskless Worker relevant sind. Doch dazu folgt in Kürze dann noch mehr Detail auf diesem Kanal. Stay tuned!
„70 bis 80%“. Und jetzt schau dir mal bitte die LinkedIn HR-Blase an.
Dort wird viel von Haltung und Vielfalt gesprochen aber genau diese Gruppe wird ausgeblendet. Danke für den Beitrag, denn ohne diese Menschen wäre unsere Gesellschaft längst kaputt. Merken die Top-Voices und Haltungs-Influencer nur nicht :-)