Ein überdimensionaler, magentafarbener Daumen steht auf einem schroffen Felsen und ragt bis in die Wolken. Um ihn herum schmiegen sich Lagerhallen, Gerüste, Betriebsstätten und Fahrzeuge dicht aneinander.
Was wie ein Science-Fiction-Setting klingt, ist in Wahrheit eine Szene aus Minecraft. Genauer: aus dem „Monument der Zuversicht“, einem aktuellen Projekt des Handwerks zur Nachwuchsgewinnung.
In seiner neuesten Kampagne zur Nachwuchsgewinnung möchte Das Handwerk Jugendliche dort erreichen, wo sie sich typischerweise aufhalten. Und das ist seit knapp 15 Jahren das erfolgreichste Computerspiel der Welt: „Minecraft“, mit rund 8 Millionen aktiven Spielenden, allein in Deutschland.
Minecraft ist ein Open World Spiel, das eine auf Blöcken aufgebaute Welt präsentiert. In dieser Welt können sich die Spielenden frei bewegen, Rohstoffe abbauen und aus den gesammelten Steinklötzen, Holzblöcken und Sandquadern Bauwerke erschaffen. Die Welt lässt sich beliebig ab- und wieder aufbauen. Wie ein unendlich formbarer Ballen aus Knete. In Windeseile kann man allein oder mit anderen Spielenden kleine und große Bauprojekte verwirklichen und sich so die eigene Welt zurechtbauen.
In gewisser Weise bietet Minecraft genau das, was die handwerkliche Arbeit ausmacht. Roh- und Werkstoffe nutzen, verändern und neue Dinge erschaffen. Und genau das ist der Ansatz, den Das Handwerk aktuell fährt. Für die Promotion ihrer Kampagne hat sich der Dachverband deutscher Handwerksbetriebe bekannte deutsche Streaminggrößen eingekauft: Die Rocket Beans, ein Hamburger Creator-Kollektiv mit Livestream-Kanal, das sich unter anderem auf Computerspiele spezialisiert. Klar im Fokus ihrer Tätigkeiten: Minecraft.
Zusammen mit den Streamenden, ihren Communities und anderen Interessierten hat sich Das Handwerk ein Bauziel gesetzt: Ab dem 1. April sollen über den Zeitraum von drei Monaten zum einen ein großer, magentafarbener Handwerks-Daumen und zum anderen eine Handwerksstadt entstehen.
Dabei gibt es pro Streamenden im Monat mehrere Termine, bei denen Interessierte live dabei sein und entweder nach kurzer Registrierung selbst mitspielen oder einfach zuschauen können.
Daumen hoch für das Bauprojekt
Zwei Monate lang habe ich das Projekt beobachtet. Minecraft war mir in seiner Allgegenwärtigkeit und unbestreitbaren Relevanz für die Gamingwelt immer ein Begriff, aber ein besonders aktiver Spieler war ich nie.
Ich habe seit Projektbeginn mir mehrere auf YouTube veröffentlichte Streamaufzeichnungen von Rocket Beans-Mitgründer Nils angeschaut, um mit dem Projekt vertraut zu werden und mir einen eigenen Eindruck zu machen:
Nils agiert vor allem in der ersten Bauphase ab Anfang April, der Phase des Daumenbaus, als Bauleiter. Mit einer Minecraft-Expertise, die eher auf meinen rudimentären Kenntnissen gleicht und einem Das Handwerk-Bauhelm auf dem virtuellen sowie realen Kopf versucht er sich geschlagene zwei Stunden erstmal einen Überblick über die Lage in der virtuellen Spielwelt zu verschaffen: Er führt uns Zuschauende ein, koordiniert Arbeitsgruppen und legt sich auf einen Baustil fest. Dies funktioniert mehr oder weniger zufriedenstellend.
Insgesamt wahrscheinlich ein guter realistischer, berufsnaher Start in das Projekt: ein Bauleiter, der keiner sein will, der wenig Ahnung von der Materie hat und obendrein auch noch die Hälfte der Zeit mit Überblick schaffen verbringt. Schnell verwirft Nils also diesen Anspruch an sich selbst.
Von nun an ist aber alles anders als auf einer echten Baustelle: Die Aufgaben sind nicht vorgegeben. Es gibt keine wirkliche Bauleitung, keinen echten Bauplan, keine Checkliste. Wer sich aktiv beteiligen will, muss sich seinen Platz suchen. Manche übernehmen organisatorische Rollen, andere legen direkt los, sammeln Materialien oder helfen beim Daumenfundament.
Und das ist vermutlich auch ganz normal. Minecraft lässt Freiraum. Und genau das zeigt sich auch in diesem Projekt: Wer bauen will, kann bauen, wer Rohstoffe sammeln will, sammelt Rohstoffe.
Spielende können sich entscheiden. Bauen sie am Daumen oder bauen sie an ihrem eigenen Projekt: eine mittelalterliche Stadt um die zukünftige Handwerksstadt herum in der jeder sein eigenes Bauwerk verwirklichen kann. Manche bauen eine Kathedrale, andere eine ganze Ritterburg oder ein Weingut. Ohne Frage sehr beeindruckend, kreativ und irgendwie auch schön.

Das Handwerk auf dem Das Handwerk-Server
Aber hat das etwas mit handwerklicher Berufsorientierung zu tun? Als Nils die Bauwerke Anfang Mai begutachtet stellt er fest: „Minecraft sollte ein eigener Handwerksberuf sein“. Und damit spricht er scherzhaft einen vielleicht nicht ganz unwichtigen Punkt an. Nicht die etwa 130 verschiedenen deutschen Handwerksberufe werden repräsentiert, sondern Minecraft. Denn es gibt hier auch keine wirkliche Arbeitsteilung. Bei einem richtigen Gebäude wären an Planung und Umsetzung mehrere Gewerke beteiligt: Maurer*innen, Elektroniker*innen, Zimmerleute, Dachdecker*innen, Maler*innen, Fliesenleger*innen… Nicht so bei Minecraft. Wer hier möchte verlegt in Eigenleistung das Parkett, baut Fenster ein und brennt den Ton im Ofen zu Ziegelsteinen. Vereint also verschiedene Zünfte in einer Person. Minecraft eben.
Fairerweise muss man sagen: zu dieser Zeit im Projekt wurde aber auch noch nicht mit dem Bau der Handwerksstadt begonnen. Der Daumen steht, doch die Fläche für die Handwerkstadt ist noch brach. Diese soll nun im Mai und im Juni gefüllt werden.
Die Entstehung der Handwerksstadt
Mitte Mai entsteht zusammen mit Nils‘ Community ein moderner Steinmetzbetrieb. Einer von zu diesem Zeitpunkt schon vielen Beiträgen zur Handwerksstadt.
Erfreulich ist dabei: Die Handwerksstadt vermeidet das oft bemühte, romantisierte Bild vom Handwerk als urige, traditionelle Zunft. Anders als in der Spielendenstadt mit Ritterburgen und Kathedralen gibt es hier keine Fachwerkidylle, keine hölzernen Schilder mit Schnörkelschrift. Stattdessen präsentiert sich die virtuelle Handwerksstadt modern, industriell, kantig, mit Betonfassaden, Laderampen und Hallenoptik. Das Handwerk wird hier nicht verklärt, sondern als zeitgemäßer Teil unserer modernen Gesellschaft inszeniert. Ein erfreulich nüchterner und realistischer Blick.

Gamifizierte Berufsorientierung
Was wir bei diesem Projekt erleben, ist genau die Perspektive, mit der Unternehmen, die Politik und offensichtlich auch handwerkliche Dachverbände auf Gaming blicken. Immer wieder hört man kamerawirksam von selbsternannten Entrepeneur*innen und Politiker*innen wie wichtig und sinnvoll Gaming ist und dann ist eines nicht weit, nämlich das Wort „Kompetenzerwerb“. Für Politiker*innen und Unternehmen geht es vorwiegend darum, dass junge Spielende sich Kompetenzen erwerben, mit denen sie dann in der Arbeitswelt besonders gut funktionieren können. Das ist die kapitalistische Verwertung des Spiels. Es ist aber damit das Gegenteil von dem, was eigentlich „Spielen“ bedeutet, nämlich zweckfreie, selbstbestimmte Aktivität. Die Idee: Wer Spaß am Bauen in Minecraft hat, wird auch Freude an handwerklicher Arbeit finden. Arbeit wird als Spiel verkauft und gleichzeitig Spiel zu Arbeit gemacht.
Und wie gut funktioniert diese Zweckentfremdung als berufsorientierendes Self Assessment?
Die Minecraft-Welt kennt keine Grenzen. Vor allem kennt sie keinen ökonomischen Druck. Es ist eine Gegenwelt zur realen Welt. Zwar wird auch in Minecraft stundenlang „gegrinded“, um genügend Ressourcen für den Ausbau von Betrieben und Häusern zu haben, aber dies passiert in einer Parallelwelt. Nicht so in der Spielwelt um den gigantischen Daumen herum. Hier gibt es alle Ressourcen für die Bauenden der Handwerksstadt dank abgekoppelten „Farmteams“ im Überfluss.
Die Einzelnen mögen vielleicht auch in der realen Welt mit unendlichen Ressourcen kreative Visionen verwirklichen können. Hier wird es allerdings so dargestellt, als sei es für alle möglich. Man muss nur machen wollen, nur ein bisschen kreativ sein, dann könne man sich mit dem Erlernen eines Handwerksberuf jeden Traum ermöglichen. Diese bestehen jedoch in der Realität aus Aufträgen, Vorgaben, Normen und Fristen. Statt individueller Entfaltung steht häufig das effiziente Abarbeiten exakt definierter Aufgaben im Vordergrund. Ob Fliesen verlegt, Elektroleitungen gezogen oder Fenster eingesetzt werden. Das meiste folgt klaren Standards und Kund*innenerwartungen. Für freie Entwürfe bleibt selten Zeit, für kreative Eigenregie noch seltener Raum.
Zudem kann man sich in der Minecraft-Stadt zwar frei bewegen und viele der Gebäude auch betreten. Doch was dabei über Handwerksberufe vermittelt wird, bleibt meist an der Oberfläche: Ein Gebäude steht für einen Beruf. Was diesen Beruf ausmacht, wie er erlernt wird und welche Anforderungen er mit sich bringt bleibt der Fantasie der Spielenden überlassen.
Aus Minecraft-Perspektive ist das gesamte Projekt in seinem Umfang und der kreativen Leistung durchaus beeindruckend. Es wird sicherlich als Werbeaktion für Das Handwerk im Kopf vieler Jugendlicher bleiben und dem einen oder der anderen großartige drei Monate verschafft haben. Aber im Sinne eines echten Self-Assessments bleibt das gesamte Projekt aber vage. Es lädt zum Mitmachen ein, aber nicht unbedingt zum Erkennen eigener Stärken und Interessen im Handwerk. Am Ende bleibt es ein Werbeformat mit symbolischem Charakter.
Wer sich einen eigenen Eindruck machen möchte kann sich die finale Bauphase des Projekts live auf Twitch anschauen. Das Abschlussevent mit Nils, Haselnuuuss und Rehleiin startet am 29. Juni um 18 Uhr.
Weitere Informationen gibt es unter: https://www.handwerk.de/monumentderzuversicht
Autor: Till Heinsohn