Kaum ein Ratgeber, der etwa über die „neuesten Trends im Azubi-Recruiting“ berichtet kommt aktuell ohne den Hinweis auf TikTok aus. Wer die „jungen Leute“ erreiche wolle, der müsse eben da sein. Kommenden Donnerstag werde ich z.B. an einem Online-Format namens HR Digital Drinks – initiiert von Annemarie Zoppelt – teilnehmen, wo wir explizit unter der Überschrift „TikTok im Azubimarketing“ über die zeitgemäße Ansprache junger Menschen diskutieren werden.
Die Ergebnisse diverser Studien (z.B. hier oder hier) bestätigen die Bedeutung von TikTok und auch aus persönlicher Erfahrung als Vater einer Teenagerin kann ich durchaus bestätigen, dass diese App gegenwärtig wahlweise ein „Place to be“ oder ein „Sehnsuchtsort“ für Jugendliche sein kann. Sehnsuchtsort dann, wenn es wie bei uns zu Hause heißt „nein, die App erlauben wir dir nicht auf deinem Smartphone“.
Und es gibt inzwischen ja auch zahlreiche Beispiele von Unternehmen, die TikTok als Kanal und Medium in ihrem Personalmarketing einsetzen und damit nicht nur Awards einheimsen, sondern tatsächlich zählbaren Erfolg erzielen.
Ich habe mich trotz der offenkundig hohen Relevanz dieser Plattform für das Personal- und speziell Azubimarketing bislang eher mit einer eigenen Meinungsbekundung zurück gehalten, weil ich zugeben muss, hier auch hin- und hergerissen gewesen bzw. in Teilen immer noch zu sein.
Ich sehe durchaus, dass TikTok es geschafft hat, eine ganz eigene und neue Ausdrucksform geschaffen zu haben und muss anerkennend zugeben, dass vieles was man dort zu sehen bekommt nicht nur kurzweilig, unterhaltsam und lustig ist, sondern häufig im wahrsten Sinne eine Kunstform. Werft hierzu gern mal einen Blick etwa in den TikTok-Kanal des Klinikums Dortmund…
@klinikumdo1. Ansprechbar? 2. Atmung? 3. Hilfe rufen! 4. ##Herz–##Massage im Takt v. 🎶„Staying alive“ (Huhn-Ton🐔) ##firstaid ##restartaheart ##hospital ##erstehilfe♬ original sound – enjoyknowledge
Und ich glaube, dass uns die speziell in Deutschland oft weit verbreitete Haltung, alles immer erstmal so lange zu problematisieren, dass wahlweise nichts mehr von der ursprünglichen Idee übrig ist oder der Zug längst weg ist, auch nicht weiterhilft.
Auch kann die Macht und Reichweite der dort versammelten Menschen durchaus „Großes“ bewegen, wie man etwa an der Aktion rund um die vollkommen missglückte „Tulsa Rally“ des orangefarbenen „Stable Genius“ ablesen kann.
Insofern ja, TikTok ist relevant und es gibt gute bis sehr gute Gründe, diesen Kanal auch für das Azubimarketing in Betracht zu ziehen und zu nutzen.
TikTok im Personalmarketing? Nein, besser nicht.
Auf der anderen Seite sind da zum einen die Datenschutzbedenken, die speziell im Hause Diercks eine große Rolle spielen und zum anderen auch der chinesische Einfluss auf die Plattform inklusive der naheliegenden Gefahr, nicht nur kontinuierlich ausspioniert zu werden, sondern dies auch noch durch einen Staat, der unter persönlichen Freiheitsrechten definitiv etwas anderes versteht als ich.
Zudem – und das steht ja in engem Zusammenhang mit der Datensammlung – ist es offen-kommunizierte Staatsdoktrin Chinas, nicht nur die eigenen (oder neu eingemeindeten) Bürger (Hongkong…) an einer sehr kurzen Leine zu halten, sondern dieses Gesellschaftsmodell auch in die Welt zu tragen. Hierbei sollen dann alle möglichen Medien auch für entsprechende Propaganda- und Ideologie-Zwecke eingesetzt werden.
Auch diese Bedenken sind weder neu noch sonderlich überraschend. Aber sie sind eben auch abstrakt und wirken theoretisch, während die ganzen oben genannten „Pro-Argumente“ eben gar nicht abstrakt und theoretisch, sondern konkret sicht- und fühlbar sind. Insofern haben es die Bedenkenträger auch immer sehr viel schwerer, die eigenen Argumente sichtbar werden zu lassen.
Doch genau das geht.
So schwappte mir kürzlich folgender Tweet in die Timeline:
A guy on reddit reversed engineered #TikTok
Here’s what he found on the data it collects on you
It’s far worse than just stealing what’s on your clipboard: pic.twitter.com/oqaQyYDXT2
— Dan Okopnyi (@d1rtydan) June 28, 2020
Eine minutiöse Auflistung all der Dinge, die die App im Hintergrund absaugt, zumindest all der Dinge, die sich über Reverse Engineering rausfinden lassen. Wer er etwas vergrößert nachlesen möchte, der kann dies hier tun:
Und auch dieses in dem Kontext veröffentliche Video zeigt ganz gut, was gemeint ist, wenn von „Datensaugen im großen Stil“ die Rede ist…
Visual representation of all the connections opened by TikTok, yes the video is mine, no I’m not explaining what each address is and why it could be there.. pic.twitter.com/uJDG1xoGzz
— Wess.wav (@yungdubs) July 1, 2020
Ja, all das ist – auch wenn man es so plastisch beschrieben und bebildert sieht – abstrakt. Und genau das ist das Problem. Das ist so schon so komplexer Tech-Kram, dass es nicht nur mein technisches Verständnis weit übersteigt, sondern wahrscheinlich auch das der meisten User.
Und da es sich hier oftmals um junge Menschen handelt, die – speziell wenn wir über Azubi-Marketing sprechen – oftmals sogar noch minderjährig sind, fällt aus meiner Sicht auch den Azubi-Marketing betreibenden Unternehmen eine besondere Fürsorgepflicht zu.
Ich meine, da wird penibel darauf geachtet, dass der Azubi seinen Helm aufsetzt und den Handlauf benutzt, da wird bei Firmenevents ganz genau hingeschaut, dass der minderjährige Azubi ja kein Sektglas in die Hand nimmt usw., aber geworben wurde für den Ausbildungsplatz über eine Plattform, die genau den gleichen sicherlich schutzbedürftigen Menschen erheblichen digitalen Gefahren aussetzt.
Das passt nicht zusammen.
Und darum sollte meines Erachtens auch nicht alles gemacht werden, was geht. Nur weil es geht. Und scheinbar setzt sich diese Erkenntnis auch bei dem einen oder anderen durch, wenn man bspw. sieht, dass die Bundeswehr ihren TikTok Kanal inzwischen geschlossen hat. Und die Bundeswehr ist in der Vergangenheit nun wirklich nicht unbedingt durch Zurückhaltung aufgefallen, wenn es um Personalwerbung geht. Um es mal diplomatisch zu beschreiben ;-)
Wer noch weiter in die Thematik einsteigen möchte, dem lege ich jetzt auch noch Henner Knabenreichs Artikel aus dem Dezember ans Herzen.
Warum TikTok im Azubimarketing und Recruiting tabu sein sollte