So muss das mit der HR-Blogosphäre doch eigentlich sein: Einer schreibt was, stößt damit eine Diskussion an, andere fühlen sich “provoziert”, eigene Gedanken dazu zu formulieren und so kommt insgesamt der Markt weiter.
Ein bisschen fühlt sich das momentan so an, wenn mir mein “Daily Feedly” einen neuen Beitrag von Persoblogger Stefan Scheller reinspült. Vor kurzem veröffentlichte Stefan einen Beitrag zum Cultural Fit (und ob dieser Diversity killt), was ich so natürlich nicht stehen lassen konnte (natürlich killt Cultural Fit Diversity NICHT!).
Heute folgte nun ein – wie ich finde sehr lesenswerter, aber eben in Teilen noch nicht vollständiger – “Testbericht” der App GOOD&Co.
GOOD&Co. Dabei handelt es sich – in aller Kürze – um eine App, die sinngemäß verspricht:
“Wir ermitteln auf spielerisch Weise valide die relevanten Berufspersönlichkeitsmerkmale und ermöglichen so ein Matching bislang nicht bekannter Qualität”.
Nebenbei: GOOD&Co. wurde vor nicht allzu langer Zeit von Stepstone gekauft. Deshalb ist das Ganze nicht mehr irgendein Silicon Valley Startup, sondern hat mehr oder weniger direkte Marktrelevanz für den deutschen Markt.
Nun, wenn die Begriffe “spielerisch” und “Persönlichkeitsmessung” und “Matching” in räumlich so hoher Dichte auftreten, dann ist es kaum verwunderlich, dass wir uns im Recrutainment Blog dazu äußern. Das sind ja nicht nur aus journalistischem Interesse unsere Themen, nein, das ist CYQUEST DNA…
Also, auch hier bleibt die Replik auf Stefans Artikel nicht aus. Wobei es sich in diesem Fall eigentlich weniger um Widerspruch handelt – bei Stefan klingen durchaus einige kritische Töne in Bezug auf GOOD&Co. durch -, sondern um eine Ergänzung. Während nämlich Stefan vor allem recht stark die Bauchschmerzen hinsichtlich der “achtarmigen Datenkrake” und den damit zusammenhängenden Datenschutzthemen äußert, möchte ich mal ein paar Sätze zum diagnostischen Inhalt der genannten Software loswerden.
Die dahinterstehende Frage: Ist alles “erlaubt”, was lustig ist…?
In aller Kürze:
- GOOD&Co. ist insg. sehr schön positioniert, jung, frisch und mutig. Das sieht gut aus, die App hat eine schöne Haptik… Haken dran. Marketing können sie.
- Die diagnostische Qualität kann man von außen natürlich nicht abschließend beurteilen. Aber der Ansatz konstruktweise zu messen, daraus dann aber doch Typen abzuleiten ist zumindest (sehr) ungewöhnlich.
- Normalerweise sind (gute) Tests konstruktbasiert (d.h. man hat von Merkmal A soundso viel, von Merkmal B soundso viel usw.).
- Typologien sind hingegen aus Sicht der Wissenschaft eher verpönt (auch wenn sie wie die ganzen auf der C.G. Jung´schen Persönlichkeitstypologie aufbauenden Verfahren wie MBTI, DISC, DISG, Thomas usw. kommerziell sehr erfolgreich sein mögen).
- Das Problem bei Typologien ist, dass diese keine überprüfbare theoretische Grundlage haben, sondern eigentlich nur (wenn überhaupt) durch „Augenscheinvalidität“ punkten. Böse Zungen sagen: „Wie Horoskope“… Wer hier ein wenig tiefer tauchen mag, der schaue einmal hier bei Wikipedia nach, Unterpunkt „Persönlichkeitstests in Unternehmen“.
- GOOD&Co. schreibt nun zwar viel von „Wissenschaftlichkeit“ und dass die Verfahren intensiv beforscht seien, allerdings findet sich nichts zu Gütekriterien, Testhandbüchern, wissenschaftlichen Publikationen etc. Natürlich muss man das als privatwirtschaftliches Unternehmen nicht veröffentlichen, aber wenn man Auswahlentscheidungen auf einem Messverfahren aufbauen will, dann würde ich als Kunde die sehen wollen. Das entspräche auch der einschlägigen DIN 33430. Sonst macht man sich als Personaler, der das einsetzt, auch sehr angreifbar – Stichwort: Betriebsrat etc.
- Und ich finde – bei aller Frische und Jugendlichkeit – die „Testinhalte“ bei GOOD&Co. zuweilen schräg, in Teilen unseriös und auch nur sehr eingeschränkt „anforderungsbezogen“.
Ein-zwei Beispiele:
>Du bist auf einer schlecht organisierten Demo gegen Löcher im Schweizer Käse. Du…<<
>Die Zombie Apokalypse steht bevor! Du bist der beste Schütze weit und breit. Was machst du?<<
>>Paarung? Mach ich, um die Spezies zu erhalten vs. mach ich wegen der kuschligen Gefühle<<
>Im Allgemeinen fühle ich mich wie… Ein Fisch, der versucht nicht in einem Netz gefangen zu werden vs. Eine meditierende Wasserschildkröte<<
Aah, ja.
- Ich weiß nicht, ob ich als Bewerber möchte, dass man mich anhand der Einschätzungen zu solchen Aussagen auswählt…
- Methodisch sehr fragwürdiges “Extra” an dieser Stelle: Man kann für jedes Item eine “alternative Formulierung” wählen… Wer sich schon mal ein ganz klein wenig mit Testtheorie befasst hat, der weiß, dass man das nur machen darf, wenn man nachweisen kann, dass beide Items die gleichen Itemkennwerte haben. Sonst “misst” das eine nämlich Granny Smith und das andere Golden Delicious. Oder gleich Äpfel und Birnen… Na, Ihr wisst was ich meine.
- Und: Wie würde man denn anhand des Befundes, dass jemand der Typus “Macher/Idealist/Nonkonformist“ in Kombination mit dem „Animal Spirit Hase“ ist, denn überhaupt auswählen wollen? Dazu müsste man erst einmal wissen, was GOOD&Co. mit “Macher” oder “Nonkonformist” meint und wie viel „davon“ dann jeweils der Macher/Nonkonformist hat. Und natürlich muss man dann wissen, wie viel „davon“ denn gut für die zu besetzende Stelle ist.
- Ich weiß nicht, ob Ihr für Eure zu besetzenden Stellen sagen könntet, ob Ihr Hasen, Füchse, Pinguine oder Einhörner für den Job braucht…?
Nun, das ist hier keine tiefgehende Analyse. Sorry, dafür fehlt mir gerade schlicht die Zeit. Aber nur weil wir uns inzwischen weitestgehend einig sind (Gott sei Dank), dass Gamification durchaus seine Verwendung im Kontext der Personalgewinnung hat, ist doch nicht alles erlaubt, was lustig ist…
Ich bleibe dabei: Testen tut man mit einem Test. Den kann (sollte!) man gern gamifizieren (etwa, indem man diesen spielerisch verpackt, hübsch gestaltet etc.), aber es muss im Kern ein guter Test bleiben (nachweislich). Mit Spielen kann man unterhalten und man kann mit Spielen auch orientieren und Einblicke geben, aber nicht (oder nur sehr sehr eingeschränkt) testen. Im Detail nachzulesen hier oder hier…
Dafür habt Ihr ja uns Blogger… ;-P
Und dass es auch mit seriöser Eignungsdiagnostik ziemlich gut klappt und offenkundig User anzieht, das zeigen uns z.B. die zwei Tests, die wir für ZEIT Online gebaut haben. Während der Studieninteressentest SIT pro Jahr von etwa einem Drittel aller Studienanfänger in Deutschland zur Studienorientierung genutzt wird (knapp 170.000 Testnutzer pro Jahr), hat der in “BOA” verbaute Berufspersönlichkeitstest JobPersonality in den ersten knapp sechs Wochen seit offiziellem Start auch schon über 15000 Nutzungen vorzuweisen.
Man sieht: Es geht auch ohne Hasen und Pinguine im Aszendenten Einhorn…
Hi Jo,
danke für Deine sehr guten Ergänzungen! Du hast Recht, das Thema Wissenschaftlichkeit kam bei mir im Beitrag zu kurz. Zurecht, da ich mich selbst damit zu wenig in der Tiefe auskenne. Auch sehe ich meine Rolle eher als Praktiker, der mal simuliert, was passiert, wenn solche Tools auf den Unternehmensalltag prallen. Zudem gibt es so Raum für wichtige Stellungnahmen durch Dich oder andere Dritte. Insofern hat mein Diskussionsimpuls ja gefruchtet. 😉
Das Hauptproblem, was ich sehe: Am langen Ende wird Vieles einfach gemacht werden und rein faktische Wirkung erzeugen. Menschen lieben gerade heute sehr einfache Lösungen. Vor allem, wenn einem jemand anderes das Denken abnimmt (Stichwort: „Um das Wissenschaftliche kümmern wir uns …“). Auch über kununu wurde ja anfangs unter dem Stichwort Objektivität und Stichhaltigkeit diskutiert. Das ist verstummt. Mittlerweile haben fast 400.000 Seitenaufrufe dafür gesorgt, dass unsere DATEV-Bewertungen von 50-70% aller (rund 350) neuen Mitarbeiter pro Jahr gekannt werden, weil sie sich vorab über uns hier informiert haben. Es wirkt einfach.
Und in diesem Sinne gehe ich davon aus, dass die bunten Bildchen ihre Faszination voll ausspielen werden. Wenn ich sehe, welche meiner Freunde (alles keine dummen Menschen) jeder kleinen App im Sinne von „Welches Tier bist Du?“ vollen Datenzugriff auf ihr Facebook-Profil erteilen und Ergebnisse am laufenden Band posten, werden sie eine irgendwie geartete (!) Wissenschaftlichkeit einfach akzeptieren.
Getreu dem Motto „Eine Studie hat bewiesen, dass 100% aller Faktastisch-Facebook -Leser alles auch ohne Beweis glauben, was auf dem Posting steht.“. Es herrscht dringender Aufklärungsbedarf!
Viele Grüße aus dem sonnigen Nürnberg
Stefan
Hallo Stefan, absolut! Das Visier muss auf sein, die Offenheit für Neues ist gut. Aber umso dringender ist es eben auch, zu verstehen, was sich jeweils dahinter verbirgt. Wir haben seinerzeit viel Haue bekommen, weil wir einem “System” wie PRECIRE eine Bühne geboten haben und damit aus Sicht vieler Eignungsdiagnostiker “Schädel-, äh Stimmdeuter” salonfähig machen. Auch das sehe ich sehr kritisch, aber es passiert. Und auch wenn man es selber vielleicht ignoriert, passiert es trotzdem! Also von daher: Ja, diese Themen müssen auf den Tisch und dann sachlich bewertet werden…