Vor Algorithmen und Robo-Recruiting muss erstmal Recruiting Analytics kommen… Ein paar Insights von Tim Verhoeven

Gegenwärtig wird unheimlich viel über Algorithmen, künstliche Intelligenz und Big Data in der Personalgewinnung gesprochen. Kaum ein Newsletter, kaum eine HR Veranstaltung kommt ohne dies aus. Dahinter steht dann immer irgendwie die Vorstellung, dass „der Roboter“, die Maschine über kurz oder lang „das Recruiting“ übernehmen wird. Nun, das mag auch so kommen, zumindest partiell, doch ist die Vorstellung, dass diese Entwicklung irgendwie über Nacht vom Himmel fallen wird, doch reichlich naiv. Damit Algorithmen wirken können, braucht es sinnvolle und aussagekräftige Daten und Erkenntnisse über die Wirkungszusammenhänge im Recruiting:

Was unterscheidet eigentlich „gute“ von „nicht so guten“ Mitarbeitern? Was „gute“ von „nicht guten“ Bewerbern? Wo findet man die „Guten“, wie spricht man sie an?

All das müssen wir erst einmal verstehen, muss jedes Unternehmen für sich und seine Bedarfe verstehen, bevor wir überhaupt darüber nachdenken können, dies zu automatisieren und dem Bot die Verantwortung dafür in die Hand zu drücken.

Ein Beispiel können Online-Assessments sein. Diese Online-Tests unterscheiden sich im Prinzip in ihren Mechanismen noch gar nicht so sehr von ihren Vorgängern aus Papier. Aber man kann sie erstens in viel größeren Fallzahlen durchführen als Pen&Paper-Tests und zweitens entstehen dabei digitale Daten und keine analogen mehr.

Das Ergebnis: Strukturierte, valide und objektive Daten (in großer Menge) zu Leistungsfähigkeit, Persönlichkeit, Interessen, Cultural Fit usw. von Bewerbern. Diese Daten wiederum in Bezug gesetzt zu späterem Berufserfolg derjenigen Bewerber, die genommen wurden und/oder zu entsprechenden Daten von bereits bestehenden Mitarbeitern kann immens spannende Indikatoren zu Tage fördern, die den zukünftigen Erfolg von Bewerbern prognostizierbar machen.

Ähnliche Erkenntnisse lassen sich an allen möglichen Stellen im Personalgewinnungsprozess – von der Be- und Ausschreibung der Stelle bis hin zum On-Boarding neu eingestellter Mitarbeiter – gewinnen.

Und damit wären wir beim Thema Recruiting Analytics.

Zu diesem Thema habe ich mir einen echten Experten zum Interview geschnappt: Tim Verhoeven, der nicht nur abstrakt und theoretisch über diese Fragen nachdenkt, sondern in seiner Funktion als Leiter Recruiting und Personalmarketing bei Bearing Point selber mehr oder weniger alles misst, was sich messen lässt…

Also Tim, warum ist Recruiting Analytics so wichtig?

Ohne valide Daten sind wir überhaupt nicht in der Lage, zu entscheiden, ob das, was wir im Recruiting machen, sinnvoll ist. Wir haben Input -> Blackbox -> Output. Ohne ein vernünftiges Recruiting Analytics System tappt man hier im Dunkeln überlässt den Erfolg dem Zufall.

Welche Datenquellen sind hierbei aus deiner Sicht relevant? Um welche Daten daraus zu ziehen? Und um (beispielhaft) welche Fragen zu beantworten?

Zwei einfache Datenquellen sind die Source of Candidate (über welche Quelle kommen Bewerber) und die Candidate Satisfaction (Zufriedenheit der Bewerber mit dem Bewerbungsprozess). Wenn ich beides systematisch messe, bin ich in der Lage zu verstehen, welche Stellenbörsen, Social-Media-Kanäle etc. dazu führen, dass ich gute Bewerber bekomme (Source of Candidate) und wie gut unsere Recruitingprozesse sind (Candidate Satisfaction).

Kannst du uns ein paar Beispiele nennen, also z.B. wo Ihr herausgefunden habt, welche Stellenanzeige besser funktioniert, über welchen Kanal, zu welchen Kosten? Oder welcher Kanal, welche Bewerber liefert, z.B. nach Geschlechtern o.ä.?

Ohne einzelne Jobbörsen diskreditieren zu wollen – wir haben relativ schnell gemerkt, dass die Qualität bei manchen Anbietern sehr zu wünschen übrig ließ. Wir haben eine erste Stellenbörse gekündigt ohne nennenswerten Bewerberrückgang. Für das gleiche Budget haben wir dann in eine andere Stellenbörse investiert und hatten 20 % mehr Bewerber als vorher.

Auf der anderen Seite haben wir messen können, dass Jobbörsen wie Absolventa und Stepstone im Vergleich zu anderen Jobbörsen signifikant mehr weibliche Bewerber gebracht haben.

Mich interessiert natürlich besonders Euer Online-Assessment – hier arbeiten wir ja jetzt seit ca. 1,5 Jahren zusammen. Wie ich Euch kenne, habt Ihr Euch auch hier die Daten sehr genau angeguckt. Gretchenfrage: Hilft Online-Assessment bei der Vorauswahl = dem Erkennen derjenigen Bewerber, die mit höherer Wahrscheinlichkeit auch erfolgreich im Auswahlprozess sein werden?

Zumindest in unserem Fall konnten wir diesen positiven Effekt messen. Da wir unsere Online Assessement relativ am Anfang des Auswahlprozesses integriert haben, lässt sich messen, dass die Qualität der folgenden Schritte besser wurde.

Und erkauft man sich diesen Erfolg mit einer „Abstimmung mit den Füßen“, sprich: Springen durch den Test mehr Bewerber ab? Am Ende sogar noch die Guten?

In Summe sind nicht mehr Bewerber von selbst abgesprungen als vorher – sie sind nur früher abgesprungen. Die Verbindlichkeit – hier gemessen durch die Verbleibquote – im Folgeprozess wurde dadurch höher als zuvor.

Spricht für Akzeptanz! :-) Messt Ihr diese auch?

Ja, wir messen die Zufriedenheit mit jedem einzelnen Auswahlschritt im Bewerbungsprozess – und da auch die Zufriedenheit mit dem Online-Assessment. Hier ist eine in Summe durchweg positive Bewertung – obwohl hier auch diejenigen mit abstimmen, die durch das Online-Assessment gefallen sind.

Habt Ihr (schon) Daten, inwieweit Diagnostik mit späterem Berufserfolg zusammenhängt bzw. diesen voraussagt? Das herauszufinden ist natürlich methodisch nicht ganz trivial und könnte zudem natürlich auch Hürden den Beschäftigten-Datenschutzes bzw. der Mitbestimmung scheitern…

Nein – das Thema ist sicherlich spannend, aber noch nicht untersucht bei uns. Ich halte es auch – unabhängig vom Datenschutz – für schwierig, da man für eine signifikante Tendenz schon eine große Stichprobe benötigt und gleichzeitig eine extrem hohe Anzahl an weiteren Faktoren den späteren Erfolg mitentscheidet (Führungskraft, Fluktuation im Team, Erfolg des restlichen Umfeldes etc).

Letzte Frage: Wo geht deiner Meinung nach die Reise hin? Wird in 2030 der Bot (des Unternehmens) mit dem Bot (des Bewerbers) alles aushandeln, der Mensch unterschreibt nur noch feierlich den Arbeitsvertrag?

Am Ende des Tage geht es auch darum, herauszufinden, ob Menschen mit anderen Menschen arbeiten können oder wollen. Rational betrachtet würde es sicherlich die beste Passung geben, wenn Bot mit Bot verhandelt; aber glücklicherweise agiert der Mensch häufig nicht so rational :-)

Tim, ich danke dir für das Interview!

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