Ein neues Recruiting-Paradigma. Aber warum der E-Commerce Vergleich nur bedingt taugt…

Ich weiß noch genau, wie ich im Oktober 2019 im Rahmen des von Robert Neuhann veranstalteten Recruiting Barcamps der Keynote von Gero Hesse zuhörte. Gero stellte darin das aus seiner Sicht neue Paradigma der Personalgewinnung vor.

Ich musste sehr viel nicken, erkannte ich darin doch einige meiner eigenen Gedanken wieder, etwa als Gero beschrieb, dass der Ausgangspunkt des “Zueinanderfindens” zukünftig vor allem die Frage “Was will ich tun?” des Arbeitnehmers an sich selbst sein wird und nicht mehr das selbstreferentielle Employer Branding der Arbeitgeber.

In ähnlicher Form hatte ich diese Frage vor Jahren auch schon einmal zur Unterscheidbarmachung von Fremd- und Selbstselektion in eine Grafik gepackt:

Aber die Klarheit und Stringenz, mit der Gero dieses Modell formulierte, hat mich sehr beeindruckt. Es lässt sich in aller Kürze in zwei Abbildungen zusammenfassen:

Ausformuliert finden sich die dazugehörigen Gedanken von Gero hier.

Viele der Konsequenzen, die sich aus dieser vom Arbeitnehmer aus gedachten Recruitingwelt ergeben und die Gero beschreibt, teile ich zu 100%: Etwa dass wie oben beschrieben zuallererst die Frage des Individuums stehen muss: Was will ich tun?

Unternehmen, die das verstanden haben, unterstützen genau an dieser Stelle durch entsprechende Hilfsmittel. Die hier im Blog in den letzten Wochen reihenweise vorgestellten Matching-Tools sind genau solche: Erstmal wird dem Nutzer geholfen zu verstehen, was dieser eigentlich selber will und dann dazu passende Angebote des Unternehmens präsentiert.

Auch dient das Employer Branding nicht dafür, den Arbeitgeber möglichst als Everybody´s Darling zu beschreiben, sondern vielmehr dazu, klare Unterscheidbarkeit zu ermöglichen. Eine gute Arbeitgebermarke ermöglicht es dem Betrachter, die Frage zu beantworten, ob das Unternehmen zu einem passt. Oder eben nicht. Remember: “Brand” leitet sich von Brandzeichen ab…

Auch beschreibt Gero wunderbar den eigentlich absolut nicht nachvollziehbaren Anachronismus, dass in den meisten Unternehmen die Arbeitgeberkommunikation immer noch nach dem Motto “One size fits all” funktioniert. Während Google, Amazon, Facebook oder netflix für jeden anders aussehen, sehen Karriere-Websites immer noch für jeden Besucher gleich aus. Ich habe Personalisierung schon vor Jahren als eine der “langen Linien” bezeichnet, die die Arbeitgeberkommunikation zukünftig prägen werden. Anfang 2020 hatte ich hierfür in einem Ausblick auf die “neuen 20er” versucht, den Begriff “Spotification (in Anlehnung an das höchst-individualisierte Nutzungserlebnis bei Spotify) ins Spiel zu bringen.

Nun, passiert ist diesbzgl. bisher noch erstaunlich wenig, auch wenn Corona sicherlich zumindest das eine oder andere etwas beschleunigt hat.

Nur mit einem immer wieder formulierten Vergleich werde ich nicht warm, dieser Vergleich hinkt einfach zu sehr: Nämlich dass sich Personalgewinnung wie E-Commerce zu gestalten habe…

Recruiting ist KEIN E-Commerce

Klar, Personalisierung und User-Orientierung, das sind sicherlich Themen, bei denen sich Unternehmen viel Inspiration aus dem E-Commerce für ihre Personalgewinnung holen können. Aber es gibt einen entscheidenden Grund, warum sich die E-Commerce Analogie sich nicht auf das Recruiting übertragen lässt:

Bei der Gewinnung von Kunden (also dem Verkaufen von Produkten oder Dienstleistungen) kommt es quasi nicht auf Eignung und Passung an. Das Prinzip lautet: Jeder Kunde ist gut und je mehr Kunden desto besser. Und das heißt: Jede Hürde, die dem “Kunde werden” im Weg steht, ist schlecht. Darum wird auch so viel in Usability, einfache Kauf- und Bezahlprozesse etc. investiert. Alles was die Conversion steigert ist gut. Alles was zum “Ausscheiden” führt ist nicht gut.

Bei der Gewinnung von Personal jedoch sind Eignung und Passung die entscheidenden Kennziffern! Die Quality-of-Hire steht meilenweit über der Quantity-of-Hire.

Es geht nicht um möglichst viele Kunden. Es geht um die möglichst richtigen MitarbeiterInnen!

Und um das herauszufinden, muss es Hürden geben!

Nicht falsch verstehen: Ich meine damit keine blödsinnigen Hürden wie antiquierte und unkomfortable Bewerber-Management-Systeme, überflüssige Fragen in Bewerbungsformularen oder fragwürdige pseudodiagnostische Verfahren. Das Argument “ein Auswahlprozess muss quälen, weil nur wer sich da durchquält, will den Job wirklich!” ist vollkommen aus der Zeit gefallener Arbeitgeber-Chauvinismus. Solche Hürden braucht kein Mensch.

Aber es gibt natürlich sinnvolle Hürden, nämlich solche die helfen, die Frage der Passung zu beantworten. Diese Hürden muss es geben.

Die oben beschriebenen Matching-Tools sind Hürden, denn sie verursachen Aufwand für den Nutzer. Freiwillige Hürden in diesem Fall, aber Hürden. Valide Auswahltests, Interviews, Assessment Center sind Hürden. In diesen Fällen auch in der Regel für BewerberInnen nicht freiwillig und sicherlich auch nicht immer ein reines Vergnügen – aber sinnvoll. Und zwar sinnvoll für das Unternehmen und Arbeitnehmer, weil auch diese – siehe oben – ein sehr großes und berechtigtes Interesse daran haben, passende Jobs bei passenden Arbeitgebern auszuüben.

In der Personalgewinnung kann es heißen: “Weniger ist mehr!”. Im E-Commerce nicht.

Und das gilt in Zeiten von Arbeitnehmermangel eher noch mehr. Denn wenn man als Unternehmen nicht mehr aus einem prallgefüllten Wäschekorb auswählen kann, dann sollte die Auswahlentscheidung möglichst beim ersten Versuch sitzen. Vielleicht ist nämlich gar keine passende Alternative mehr im Lostopf, vielleicht gibt es gar keine zweite Chance.

Eine Produktmarke ist umso erfolgreicher, je mehr sie Everybody´s Darling ist. Eine Arbeitgebermarke nicht.

3 Gedanken zu „Ein neues Recruiting-Paradigma. Aber warum der E-Commerce Vergleich nur bedingt taugt…

  1. Hallo Jo,
    vielen Dank für Dein Statement, dem ich zu 100% zustimme.
    E-Commerce setzt auf Werbung mit dem Ziel maximal viel zu verkaufen. Das wäre im Sinne von Employer Branding absolut kontraproduktiv. Denn hier kommt es auf Qualität und nicht (nur) auf Quantität an.
    Witzigerweise passt das wie die Faust aufs Auge zu meinem heutigen Artikel, der lautet “Employer Branding ist keine Arbeitgeberwerbung (…)” – und damit eben auch kein E-Commerce.
    Falls die Verlinkung erlaubt ist: https://persoblogger.de/2021/12/13/employer-branding-ist-keine-arbeitgeberwerbung-sondern-11-kommunikation
    Danke Dir.
    Viele Grüße und bleib weiter gesund
    Stefan

  2. Richtig, aber…

    “In der Personalgewinnung kann es heißen: “Weniger ist mehr!”. Im E-Commerce nicht.”

    Wenn über den Tellerrand blicken, dann bitte noch weiter. :-) Wir leben in einer massiven Überflussgesellschaft, daher zählt “Weniger ist mehr” auch im shopping und insbesondere im E-Commerce.

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