Auch Coaching wird “remote”… Wie, das geht lassen wir uns vom HR-Start-Up des Jahres “remotly” erklären

Bei der Personalgewinnung konnten wir über die letzten gut zwei Jahrzehnte deutlich beobachten, dass sich das Internet wie ein großer Schaufelbagger Stück für Stück immer weitere Elemente der “typischen Recruiting-Wertschöpfungskette” einverleibt hat.

Vom Employer Branding bis zum Job-Interview, überall steht heute im Regelfall ein “Online” davor. Und die Vorboten, auch beobachtungsbasierte Auswahlverfahren (also z.B. Assessment Center) in den virtuellen Raum – HoloDeck? Metaverse? – zu holen, sind ja mehr als deutlich zu erkennen… Corona hat diesen Trend zu “Remote-Verfahren” zwar nicht geschaffen, aber noch einmal deutlich beschleunigt.

Auch wenn es sich thematisch etwas abseits der typischen CYQUEST-Themen bewegt, stellte ich kürzlich mit Interesse fest, dass sich diese Entwicklung offenkundig auch in anderen HR-Disziplinen abspielt. So wurde das Unternehmen remotly jüngst beim HR-Excellence Award als “HR Start-Up des Jahres” gekürt und das mit einem Geschäftsmodell, das Coaching, also eine nach dem klassischen Verständnis höchst zwischenmenschliche – man könnte sagen “kohlenstoffliche” – Dienstleistung, remote anbietet.

Für mich war das Grund, mir das einmal genauer erklären zu lassen, wofür mir Barbara Kolocek, Cultural Change Consultant und Dr. Jörn Apel, CEO und Gründer von remotly zur Verfügung standen.

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Liebe Barbara, wir kennen uns ja schon einige Jahre, u.a. weil ich de Ehre hatte, einen Beitrag zu dem von dir und Harald Fortmann herausgegebenen Buch „Arbeitswelt der Zukunft“ beisteuern zu dürfen. Inzwischen bist du bei remotly und wenn ich das richtig sehe, dann habt Ihr da gerade ja wirklich zu feiern: Bei den diesjährigen HR Excellence Awards 2021 seid Ihr just als „HR Start-Up des Jahres“ gekrönt worden. Bitte erklär uns doch einmal in ein paar Worten, was genau remotly eigentlich macht.

remotly verfolgt das Ziel, große Organisationen systematisch zu befähigen, ihre Kultur wirksam und nachhaltig in Richtung mehr Eigenverantwortung und gesunder Effektivität in vertrauensvoller Verbundenheit zu entwickeln.

Hierzu haben wir ein Vorgehen entwickelt, dass die Teams in den Mittelpunkt stellt, die Transformation von innen heraus zu betreiben. Begleitet von unseren Teamcoaches, die in einem strukturierten Vorgehen über 12 Wochen hinweg remote die Teams bei ihren Meetings begleiten.

remotly betreibt eine digitale Plattform, um viele, idealerweise alle Teams auf diese Reise mitzunehmen – mit minimalem administrativen Aufwand für das Unternehmen.

Jörn, du bist CEO von remotly und hast das Unternehmen auch mitgegründet. Diese Kombi kenne ich ja auch ganz gut… Bist du mittlerweile vor allem (Wachstums-)manager oder bist du auch noch operativ in Projekten tätig?

Ich kenne diesen Spagat aus meiner früheren Unternehmertätigkeit, z.B. beim Aufbau der New Work Beratung TheDive.

Bei remotly habe ich sehr früh entschieden, andere Wege zu gehen. Ich fokussiere mich auf die unternehmerische Kernrolle Geschäftsentwicklung/Sales und die Auswahl und Ausbildung unserer Teamcoaches. Bei letzterer ist mir wichtig, dass alle Mitwirkenden die remotly Vision und Grundhaltung im Umgang mit Menschen in Organisationen verinnerlichen und im Coachingprozess versiert umsetzen.

Dadurch, dass wir keine Beratung anbieten, sondern sehr standardisiert und produktorientiert vorgehen, ist meine Mitwirkung in Kundenprojekten verzichtbar und an wunderbare Mitarbeitende mit klar beschriebenen Rollen delegiert.

Mein Gründungspartner Nicolas deckt die Strukturthemen Operations/IT und Prozesse ab. Gemeinsam schauen wir regelmäßig auf die Ausrichtung und Strategie.

Wie sieht denn ein konkretes „12 Wochen-Programm“ aus? Wie muss man sich das vorstellen?

Zunächst ist wichtig, dass es uns ja nicht um einzelne Teams geht, sondern um Kulturwandel, also sehr sehr viele Teams!

Die Teams starten in Wellen und durchlaufen in jeder Welle sehr synchron dasselbe 12-wöchige Grundprogramm.

Aus Sicht eines Teams stellt sich das dann so dar:

Über 12 Wochen kommt unser Coach remote in das wöchentlichen Teammeeting und moderiert dieses (immer exakt 60 Minuten). Im Anschluss werden anhand digitaler Lernboards zentrale Team-Themen bearbeitet, in kleinen Einheiten von 1h wöchentlich. Am Ende folgt eine 30 min Feedback- und Retro Session, in der das Team den Entwicklungserfolg reflektiert.

Über 12 Wochen lösen wir schrittweise belastende Kernprobleme, die in fast allen Teams virulent sind. Das Ziel nach 12 Wochen:

1) Die Meetings verlaufen sehr systematisch und fordern jeden einzelnen, seine Anliegen proaktiv einzubringen. Sie machen Spaß und geben das Gefühl: ich bekomme von meinem Team alles, was ich brauche!

2) Jeder im Team weiß, welchen Purpose und Auftrag das Team verfolgt. Die Ziele sind aktuell und allen transparent.

3) Alle im Team kennen sich persönlich mit ihren jeweiligen Interessen und Stärken. Durchaus auch privat! Die Verbundenheit ist deutlich gewachsen.

4) Es ist allen transparent, was von wem erwartet wird und jeder weiß, wie diese Verteilung ohne viel Tamtam geändert werden kann. Von jedem!

5) Es ist eine eigenverantwortliche Grundhaltung etabliert: die konkrete Lösung hat immer Vorfahrt vor Bedenkenträgerei und Ablenkmanövern. Die agilen Prinzipien “Better done than perfect / Safe enough to try” sind fest verankert.

6) Das Pendeln zwischen Top Down Entscheidungen und Konsensdiskussionen wird ein für alle Mal durchbrochen und durch einen partizipativen, zügigen Entscheidungsprozess ersetzt.

Besonders wichtig und erfreulich ist, dass die Mitglieder (auch die Führungskräfte!) uns nach der Reise zurückmelden, dass sie auch individuell gewachsen sind: mehr Mut zu offenen, klaren Aussagen und Entscheidungen. Ein konkretes praktisches Vorgehen, andere in deren Verantwortung zu stärken und sich nicht für alles verantwortlich zu fühlen. Das wirkt dann sogar bis in den private Bereich wie Kindererziehung hinein!

Jetzt sagt Ihr – ich bin ja ein ausgesprochener Fan von empirischer Evidenz… – dass Ihr den Erfolg messbar macht. Was heißt das konkret? Wie lässt es sich quantifizieren, dass ein Team nun „effektivere“ oder „bereichendere“ Meetings durchführt, wie beziffert man die Zunahme an „agiler Kompetenz“ bei einer Führungskraft?

Uns sind zwei Aspekte fundamental wichtig:

1. Wir möchten Schluss machen mit HR Interventionen, die viel kosten, viel Aufwand für alle bedeuten und am Ende völlig offen lassen, ob sie irgendwem irgendetwas Konkretes gebracht haben. Wir möchten unseren Kunden eine ganz klare Aussage geben: Das waren die Ziele, das haben wir erreicht. Und das nicht.

2. Wir wissen aus der Psychologie, dass Entwicklung den Beitrag der Akteure braucht. Niemand “lässt sich entwickeln”. Und wir wissen, dass selbstgesteckte Ziele und der stetige Abgleich mit diesen Zielen enorm motivieren und die Eigenverantwortung befeuern. Das ist — übertragen — eben die zentrale Bedeutung der Waage bei einem Diätprogramm.

Auf Deine Frage: wir verwenden standardisierte Skalierungsfragen und messen während der 12 Wochen stetig die Veränderung in Puls-Checks. Es kommt uns nicht auf die absoluten Ergebnisse an, sondern auf die Veränderung!

Die Kernfrage muss ja sein: Wir haben x Euro und y Stunden investiert. Um wieviel % sind wir in den zentralen Aspekten besser geworden.

Zusätzlich setzen wir mit einzelnen Kunden auch objektive Messdimensionen ein, die sich z.B. daran orientieren, wie viele Anliegen pro Woche erfolgreich gelöst wurden (analog zu Velocity beim Scrum).

Mit einem großen Technologieunternehmen planen wir gerade systematische A/B Tests mit Kontrollgruppen ohne unsere Begleitung.

Wir wissen, was wir bewirken und wir wollen es beweisen!

Momentan konzentriert Ihr Euch ja sehr stark auf die Themen “Eigenverantwortung, gesunde Effektivität und Teamverbundenheit”. Läßt Euer Ansatz sich auch auf andere Entwicklungsziele übertragen?

Super Frage ;-) vielen Dank!

In der Tat, das remotly Grundprinzip, über systematisches remote Teamcoaching on the job nachhaltig wirklich etwas zu verändern, lässt sich übertragen.

Wir werden uns, sobald wir unser aktuelles Kernprodukt breiter skaliert haben, als nächstes (nicht mit Diätprogrammen ;-) ) sondern mit dem Thema Dekarbonisierung und sozio-planetare Nachhaltigkeit beschäftigen. Dafür bauen wir gerade Partnerschaften und Produkt-Prototypen. Die Grundidee ist auch hier: alltagstauglich, lebenspraktisch, umsetzbar, mit Ambition und Spaß bei der Sache. Statt “man müsste, man sollte” bzw. T.E.A.M. = Toll Ein Anderer Machts”…

Letzte Frage: Wenn die 12 Wochen vorbei sind, seid Ihr dann raus, das Unternehmen gilt fortan an als „enabled“ und muss, um es etwas überspitzt zu formulieren „allein klarkommen“, oder bleibt man irgendwie mit Euch verbunden?

Während der Begleitung transferieren wir die Rolle des Coaches ins Team, indem wir aus dem Team talentierte Menschen wählen lassen, die nach den 12 Wochen die Fackel weitertragen.

Die Frage nach der Langzeitwirkung ist momentan noch ein Stück weit offen, da wir ja erst in 2020 gestartet sind und nur begrenzt Langzeitdaten haben.
Was sich aber jetzt schon zeigt:

Der Dreh- und Angelpunkt ist eine starke Moderationsrolle (aus dem Team) und eine Führungskraft, die das versteht und unterstützt. Wenn dies beherzigt wird, bleiben etwa 70..80% der Verhaltensmuster, die wir etablieren, längerfristig erhalten.

Da sich Teams häufig neu zusammensetzen und im Alltag insbesondere die Retro und Feedback Zeit geopfert wird, bieten wir inzwischen Refresher an, die in größere Abständen vom Team nachgebucht werden können. Das wird sehr offen und dankbar aufgenommen!

Liebe Barbara, lieber Jörn, ich danke euch herzlich für die Einblicke. Ich bin sehr gespannt, wie es bei euch weitergeht und wünsche euch, dass aus dem Start-Up des Jahres auch ein Grown-Up des Jahres wird!

Vielen Dank, lieber Jo! Damit uns das gelingt, freuen wir uns so über Menschen wie Dich, die uns helfen, bekannter zu werden, zu wachsen, mehr zu lernen und vielen vielen Teams in eine gesündere und zuversichtlichere Arbeitswelt zu geleiten! Danke Dir!

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