Harvard-Analyse von mehr als 51 Millionen Stellenanzeigen zeigt: Bedeutung formaler Abschlüsse sinkt

Vor kurzem wies ich in dem Artikel “Arbeitskräftemangel: eine Chance für Quereinstieg. Quereinstieg: ein Lösungsbeitrag bei Arbeitskräftemangel…” darauf hin, dass wir uns im Recruiting von der starren Fixierung auf die sog. “qualifikatorische Passung” lösen sollten, um den Kreis derer, aus denen rekrutiert werden kann, tendenziell zu vergrößern.

Dahinter steckt der Gedanke, dass die Bedeutung dessen, was jemand schon kann, tendenziell zurück geht, während die Bedeutung dessen, was jemand können kann, also die potenzialbasierte Passung sowie dessen, wonach jemand bei der Arbeit strebt (Werte, Interessen etc.) – die “bedürfnisbezogene Passung” (aka Cultural Fit) – steigen.

Eine in diesem Zusammenhang mehr als bemerkenswerte Studie scheint diese Entwicklung auch empirisch zu bestätigen. Zumindest zeigt die Studie “The Emerging Degree Reset“, dass bei den von Arbeitgebern in Stellenanzeigen formulierten Anforderungen die Nennung formaler Abschlüsse (deutlich) rückläufig ist.

Die von Joseph B. Fuller und KollegInnen an der Harvard Business School in Zusammenarbeit mit dem auf Arbeitsmarktdaten spezialisierten Analyseinstitut Burning Glass durchgeführte Untersuchung basiert hierbei auf der beachtlichen Anzahl von mehr als 51 Millionen ausgewerteten Stellenanzeigen aus dem Zeitraum 2017 bis 2020.

Exemplarisch herausgegriffen sah dies etwa bei Stellenausschreibungen von Accenture so aus:

Auch wenn hierbei sicherlich angemerkt werden muss, dass es sich vorrangig um US-amerikanische Stellenanzeigen handelt, halte ich die Kernaussagen der Untersuchung für generalisierbar:

  • Der Rückgang bei der Nennung formaler Abschlüsse als Anforderungskriterium betrifft überproportional sog. “Middle-Skill Positions”.
  • Bei einer Reihe von Firmen zeigt sich diese Entwicklung aber auch bei “Higher-Skill Positions”.
  • Diese Entwicklung wird als Resultat zweier Entwicklungen gesehen:

1. als Reaktion auf den “bullish” Arbeitsmarkt, sprich eine starke Nachfrage nach Personal. Bei uns wohl ganz gut mit dem Schlagwort “Arbeitskräftemangel” zu beschreiben.

Die Autoren kommen hier zu der wie ich bemerkenswerten Schlussfolgerung:

“This shift to skills-based hiring will open opportunities to a large population of potential employees who in recent years have often been excluded from consideration because of degree inflation.”

2. als Folge der Corona-Pandemie. Hier schreiben die Autoren zwar, dass es sich um eine zyklische und der Ausnahmesituation geschuldete Entwicklung handeln könnte, also sinngemäß “weil man z.B. in betroffenen Branchen wie der Gesundheitsversorgung dringend Personal brauchte, senkte man (vorübergehend) die formalen Anforderungen”.

Aber auch hier führen die Autoren an, dass sich oftmals herausstellt, dass die so eingestellten Personen gar nicht wirklich schlechter performten:

“(…) research suggests that performance differences are often marginal outside specific fields such as professional services and finance.”

Insb. dies deutet an, dass der von vielen Arbeitgebern geforderte formale Abschluss in vielen Fällen gar nicht sonderlich gut als Prädiktor für berufliche Leistung taugt.

  • Unternehmen, die die Bedeutung formaler Abschlüsse bei den genannten Anforderungen reduzierten, beschrieben in den Stellenanzeigen die wirklich gesuchten “eigentlichen” Anforderungen detaillierter.

Statt sich also darauf zu verlassen, dass die gewünschten Fähig- und Fertigkeiten sowie Softskills schon vorhanden sein werden, wenn jemand den richtigen Abschluss vorweisen kann, wird sich mehr Mühe gegeben zu beschreiben, was diese gewünschten Skills eigentlich sind. Wer hier an Stichworte wie Anforderungsanalyse, Realistic Job Preview, Berufsorientierung, Matching oder Self-Assessment denken muss, der liegt sicher nicht ganz falsch…

Fuller kommt zu folgender Aussage:

“A successful reset will represent a win-win: Previously overlooked workers will be able to pursue attractive career pathways even without a four-year degree, and companies will be better able to fill jobs that need filling.”

Da geht einem schon ein bisschen das Herz auf…

Heißt das nun, dass man bei der Personalauswahl zukünftig eben weniger genau hinsehen kann/darf/sollte? Nein, natürlich nicht. Potenzial und Passung gilt es natürlich sehr gründlich zu überprüfen, möglicherweise sogar gründlicher als früher, weil man nicht mehr so sehr aus dem Vollen schöpfen kann – auch dazu habe ich ja an verschiedenen Stellen schon eine ganze Menge an Argumenten zusammengestellt. Aber die oftmals noch sehr starre, beinahe dogmatische Fixierung auf formale Abschlüsse, die kann man durchaus zurückfahren.

Die Studie kann hier bei Burning Glass heruntergeladen werden.

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