So, nun ist er da: Der Mangel.
Der Arbeitsmarkt zieht nach Corona (nach? ist es denn schon vorbei…?) wieder an (eigentlich ist er bis auf eine kurze Schockphase zu Beginn der Pandemie nie wirklich eingebrochen) und alle merken es:
Bewerbungszahlen gehen runter, die Qualität der Bewerbungen und das Commitment der Bewerbenden gehen zurück, kurz: Die Gewinnung von Personal wird immer schwieriger.
Dieses Phänomen wurde nun schon einige Jahre unter dem Begriff Fachkräftemangel diskutiert, oftmals mit der Konnotation, dass es sich um einen Mangel an IT-Fachkräften handelt. In Wahrheit aber handelt es sich inzwischen um einen allgemeinen Arbeitskräftemangel. Es mangelt an Fachkräften ja, aber selbstverständlich nicht nur an IT-Fachkräften. Wer mal versucht hat, einen qualifizierten Elektriker zu bekommen, der weiß was ich meine. Und wir können diese Liste beliebig fortsetzen: Pflegekräfte, LKW-FahrerInnen, SekretärInnen, BestatterInnen, HausmeisterInnen, Diakone, Reinigungskräfte usw.
Der vom Münchner ifo Institut regelmäßig berechnete Indikator zum Fachkräftemangel erreichte trotz coronabedingt angespannter Konjunktursituation Ende 2021 einen historischen Höchststand und das quer über Branchengrenzen hinweg.
Lt. IAB- Stellenerhebung steigt die Anzahl offener Stellen seit rund einem Jahrzehnt kontinuierlich an. Auch der coronapandemiebedingte Knick in 2020 konnte diesen Trend nicht nachhaltig brechen.
Für das Recruiting hat dies vor allem eines zu Folge: Die Macht verschiebt sich sukzessive immer weiter in Richtung der Bewerberschaft. Und dies bedeutet in der Konsequenz, dass Recruiting dem Charakter nach immer stärker im Sinne der Personalgewinnung gedacht werden muss, mit Betonung auf „Gewinnung“.
Recruiting muss sich mehr anstrengen, nicht weniger…
Aber, und nun komme ich zu meinem eigentlich Punkt, das darf natürlich NICHT bedeuten, dass das Recruiting beliebiger wird. Nach dem Motto:
Weil es ja weniger (gute) BewerberInnen gibt, senken wir halt die Anforderungen und nehmen (fast) jeden…
Dieser Impuls ist verständlich und ja auch irgendwie menschlich. Wenn die Geschäftsführung immer nachdrücklicher fragt, warum man denn die Stellen nicht oder nicht mehr so schnell besetzt bekommt, dann liegt es möglicherweise nahe, einfach weniger genau hinzuschauen und auch KandidatInnen durchzuwinken, die es aber eigentlich nicht sind.
Aber genau das – ob er oder sie es ist – muss bei der Personalgewinnung das entscheidende Kriterium bleiben! Wird der Kandidat oder wird die Kandidatin den Job mit hoher Wahrscheinlichkeit gut meistern oder nicht?
Stellt man jemanden ein, bei dem das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der Fall sein wird, dann mag man vordergründig das Recruitingziel „Stelle besetzen“ erreicht haben, aber man hat das Problem ja nur woanders hin verlagert. Und nicht nur das: Man hat es ja nicht nur woanders hin verlagert, sondern man es dorthin verlagert, wo es noch viel mehr schmerzt: Ins Business.
Ein ungeeigneter Kandidat mag im Recruiting stören. Aber ein ungeeigneter Mitarbeiter kostet richtig Geld.
Und spätestens wenn sich diese Fälle häufen, wird die Geschäftsführung auch wieder beim Recruiting vorstellig werden und fragen, was denn da los ist. Und in dem Fall wird sich das Recruiting dann auch nicht mehr mit dem Argument entschuldigen können, dass es eben weniger (gute) Bewerbende gibt, aus denen man auswählen kann, in dem Fall hätte das Recruiting selber den Fehler gemacht!
Zu argumentieren, dass man „wegen Fachkräfte-/Arbeitskräfte-/Bewerbermangel“ eben nicht mehr so genau hinschauen dürfe, ist in etwa so wie zu argumentieren, dass man das Thermometer von der Wand nehmen müsse, weil es einem zu warm ist oder dass man lieber nicht mehr zum Arzt gehen dürfe, weil man Angst vor der Diagnose hat.
Das Gegenteil ist der Fall!
Je weniger qualifizierte BewerberInnen man bekommt, desto genauer muss man bei denen hinschauen, die sich bewerben! Denn – und diese Logik ist bestechend einfach – man kann ja eben nicht einfach den nächsten nehmen, wenn der/die erste ein Fehlgriff war.
Früher konnte man einfach wieder ausschreiben und hatte Rubbeldiekatz wieder einen Waschkorb an Bewerbungen neben dem Schreibtisch stehen. Heute geht der Krampf aber wieder ganz von vorne los.
Nicht falsch verstehen: Ich werbe nicht dafür, Bewerbungsprozesse zu möglichst unangenehmen Spießrutenlauf zu machen. Das Argument „nur wer sich da durch beißt, der will den Job auch wirklich“ war schon immer Blödsinn und bleibt dies auch weiterhin. Nein, Bewerbungsprozesse sollten und müssen so angenehm und niedrigschwellig wie möglich sein – Stichwort „Candidate Experience„, aber sie müssen vor allem weiterhin so gut wie möglich dem Ziel dienen, die bestgeeignete und -passende Person für den Job zu finden. Also:
Bewerbungsprozesse so ANGENEHM wie möglich, aber vor allem so AUSSAGEKRÄFTIG wie nötig!
Also liebe Unternehmen, ja es ist nicht mehr so einfach. Aber bitte senkt nicht deswegen die Bemühungen in der Personalgewinnung, sondern steigert sie! Investiert in die berufliche Orientierung, steigert die Klarheit der Erwartungen bzgl. der Aufgaben und Unternehmenskultur und nutzt aussagekräftige /diagnostische Beurteilungsverfahren, um die (wenigen) geeigneten BewerberInnen auch identifizieren zu können!
Und wenn das alles nicht reicht und man wirklich mit weniger gut geeigneten und qualifizierten Neueinstellungen leben muss, dann wird die innerbetriebliche Qualifizierung und Weiterbildungen eben ausgeweitet werden müssen. Aber auch um gezielt qualifizieren zu können, muss ich wissen, wo denn Defizite liegen. Auch das findet man nur heraus, wenn man – Ihr ahnt es – im Recruiting genau hinschaut…