Werden Frauen in Online-Video-Interviews (auch noch) technisch diskriminiert? Studienergebnisse deuten darauf hin.

Wir sitzen momentan wahrscheinlich fast alle sehr viel in Online-Videokonferenzen über Teams, Skype, Zoom usw. Damit die Übertragung von Bild und Ton möglichst stabil und ruckelfrei funktioniert müssen diese dabei durch Kompression auf vertretbare Datenmengen reduziert werden. Hierfür gibt es verschiedene Kompressions-Codecs wie mp3, OPUS oder SPEEX.

Den aktuellen Studien “SPEECH SIGNAL COMPRESSION DETERIORATES ACOUSTIC CUES TO PERCEIVED SPEAKER CHARISMA” sowie “Women, Be Aware that Your Vocal Charisma can Dwindle in Remote Meetings” der Professoren Ingo Siegert vom Institut für Informations- und Kommunikationstechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Oliver Niebuhr vom Zentrum für Industrieelektronik der Universität Sønderborg zufolge wirkt sich diese Kompression unterschiedlich stark auf die Stimmen von Frauen und Männern aus. Insb. bei Frauenstimmen fischt die Kompression wesentliche Merkmale bei Stimmhöhe und -umfang sowie Klangtiefe heraus.

Diese Informationen fehlen entsprechend dem Hörer.

Menschen sind aber nun einmal so gestrickt, dass sie sich aus der Stimme des Gesprächspartners ein Bild über diese Person bilden. Das ist im Sinne der vorurteilsfreien Beurteilung des Gegenübers natürlich nicht gut, lässt sich aber auch nicht verhindern, weil dies unterbewusst und in Millisekunden in der sog. Amygdala, dem Mandelkern des Gehirns passiert.

In der oben genannten Studie konnte zudem aufgezeigt werden, dass eben nicht nur Stimmanteile fehlen, weil diese technisch herausgefiltert werden, sondern dass eben diese Filterung vor allem zu Lasten der charismatischen Wirkung von Frauen ging.

Jetzt kann man natürlich argumentieren, dass die Stimme oder die Art und Weise wie jemand etwas sagt, ohnehin kein empfehlenswerter Prädiktor für die Vorhersage von Persönlichkeit und Charakter ist. Wir haben auf die offenkundigen Schwächen der vielzitierten Lösungen von Precire, 100Worte und Co. ja ausgiebig hingewiesen. Aber wenn jedwede Analyse allein schon deshalb scheitert, weil das bewertete Material überhaupt gar nicht mehr dem Original entspricht, also “bewertete / analysierte Stimme” gar nicht gleich “echte Stimme” ist, dann ist es natürlich noch viel weniger vertretbar, dieses Material für diese Analyse heranzuziehen als es eh schon ist.

Nun, die vorliegende Studie geht auf Video-Konferenzen im Allgemeinen ein. Es liegt kein besonderer Fokus auf dem Einsatzzweck Video-Job-Interview. Aber es liegt natürlich nahe, dass auch solche Remote-Interviews den gleichen technikbegründeten Wahrnehmungsfehlern unterliegen wie alle anderen Video-Konferenz-Formate auch.

Neben allen anderen ohnehin schon in Interviews vorkommenden Biases und den zusätzlich durch das besondere (zweidimensionale) Videosetting hinzukommenden, spielen also zusätzlich auch noch technologische Aspekte mit hinein, auf die weder Absender noch Empfänger irgendeinen Einfluss nehmen können (außer sich dessen bewusst zu sein…).

Ein weiteres Argument dafür, einen möglichst hohen Standardisierungsgrad im Interview anzustreben und ein maximales Augenmerk darauf zu legen, was jemand sagt und nicht wie.

4 Gedanken zu „Werden Frauen in Online-Video-Interviews (auch noch) technisch diskriminiert? Studienergebnisse deuten darauf hin.

  1. Sorry – es wird langsam echt lächerlich. Man kann es auch übertreiben. Man kommt sich ja langsam vor wie im Mittelalter. Überall sehen alle nur noch Diskriminierung!

  2. Die Beschreibung “diskriminiert” scheint mir auch übertrieben, wenn der Fokus der Entwicklung eben auf Datensparsamkeit lag und im gewählten Frequenzbereich zumindest beide Geschlechter verstehbar sind – hier fehlt die mMn konstituierende Absicht der Benachteiligung. Beheben lässt sich das sicherlich, ein Unding, dass die intensive Frauenförderung das nicht schon geschafft hat – ob es wohl am Interesse oder den realen Konsequenzen mangelt?

  3. Ja, der gewählte Begriff ist in diesem Zusammenhang sicherlich recht stark ausgefallen. Ich glaube auch nicht, dass hier eine diskriminierende Absicht vorliegt. Allerdings kann Diskriminierung eben auch “mittelbar” sein (§3, Abs. 2 AGG). Und die könnte man hier schon vermuten, da die Datensparsamkeit (als rechtmäßiges Ziel) wahrscheinlich nicht zur sachlichen Rechtfertigung ausreicht. Nun, mir ging es auch vor allem darum, auf diesen Umstand hinzuweisen, damit er zumindest bewusst und bekannt ist.

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