„Retention ist das neue Recruiting!“ So schallt es oft aktuell durch die öffentliche Debatte.
Ich gebe zu, ich habe so meine Probleme mit dieser Formel. Dahinter steckt natürlich ein so richtiger wie höchsteinfacher Gedanke: Wenn wir die (guten) Leute länger halten, dann haben wir weniger Recruitingdruck. Wer schon da ist (und bleibt), der muss nicht neu gefunden werden.
So weit, so richtig.
Doch die Formel „Retention ist das neue Recruiting“ suggeriert erstens, dass es sich bei Retention irgendwie um eine neue Unternehmensfunktion oder „Abteilung“ handeln würde – „gib das mal ins Retention rüber, die sind dafür zuständig“. Kennt Ihr viele Unternehmen, die solche Abteilungen oder auch nur Funktionen haben?
Und zweitens klingt es so, als müssten wir halt Retention machen statt Recruiting. Doch Retention kann man ja nicht machen, sondern Retention ist das Resultat von Dingen, die man machen kann (und sollte).
Retention ist Ergebnis z.B. eines wertschätzenden Umgangs mit Mitarbeitenden, einer guten Personalentwicklung INKLUSIVE eines gründlichen Onboardings, von Weiterentwicklungsmöglichkeiten oder flexiblen und individuellen Beschäftigungsmodellen, Vereinbarkeitsangeboten usw.
UND Retention ist maßgeblich Resultat dessen, was wir im Recruiting bzw. den vorgelagerten Prozessen der Berufsorientierung, des Employer Brandings und des Personalmarketings machen.
Je besser das Recruiting, desto mehr Retention.
Auf diese sehr einfache Form könnte man es bringen. Neben „guter“ Auswahl durch das Recruiting – hier sei auf die aktuell sehr intensiv geführte Debatte um eignungsdiagnostische Themen verwiesen – gehört dabei eine Zutat ganz dringend dazu: Frühzeitiger Aufbau von Beziehungen und ein höchstes Augenmerk auf die Verbesserung der „Klarheit der Erwartungen“. Je klarer definiert wird, nach welchen Skills, Potenzialen und Merkmalen gesucht wird, desto besser kann dies auch nach außen kommuniziert und danach gesucht werden. Und je klarer beschrieben und erlebbar gemacht wird, was konkret bei einem Arbeitgeber, auf einer Stelle, in einer Tätigkeit, in einem Beruf auf einen zukommt, desto besser passende Personen werden sich dadurch angesprochen fühlen und sich bewerben. Und besser passende Personen werden länger bleiben.
Die Kette lautet also:
Realistic Job Preview > Klarheit der Erwartungen > Beziehungsaufbau (auf Basis von Ehrlichkeit) > „besseres“ Recruiting > Steigerung der Bindung = Retention.
Wir machen also nicht Retention als neues Recruiting. Wir machen (sollten machen…?!) besseres Recruiting für mehr Retention. Von dem von mir sehr geschätzten Prof. Jochen Kootz habe ich mir hierfür das Wort Recrutention geklaut…
Und um mal zu aufzuzeigen, dass diese Logik auch in anderen Branchen und anderen „Recruiting-Kontexten“ gilt als denen, die wir aus dem Unternehmensumfeld kennen, habe ich hier einmal eine aktuelle und sehr spannende Studie mitgebracht. Man setze für „Studienabbruch“ am besten das Wort „(Früh)fluktuation“ und tausche den Begriff „Studieneingangsphase“ mit „Onboarding“ und schon liefert die Studie CHECK des Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) eine wunderbare Inspiration für das Recruiting…
Hochschulen verstärken Maßnahmen zur Reduzierung von Studienabbrüchen
Mehr als ein Viertel der Studienanfänger*innen in Deutschland beendet das Studium ohne Abschluss. Ein besseres Zusammenspiel zwischen Studierenden und Studiengang sowie eine verstärkte Unterstützung beim Studienbeginn könnten dem entgegenwirken.
Laut der Untersuchung des CHE haben die Hochschulen in den letzten Jahren Maßnahmen wie Self-Assessments und Vor- bzw. Brückenkurse ausgebaut, um dieser Problematik zu begegnen.
Rund ein Viertel der Erstsemester bricht das Studium ab
Laut dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) beenden 28 Prozent der Bachelor-Studierenden in Deutschland ihr Studium ohne Abschluss. Das Statistische Bundesamt gibt an, dass 11 Prozent der Erstsemester des Jahres 2019 bereits innerhalb der ersten drei Semester ihr Studium abgebrochen haben.
„Die häufig genannten Gründe für einen Studienabbruch, wie Leistungsprobleme oder mangelnde Motivation, deuten oft auf ein ‚Matching-Problem‘ hin“, erläutert Cort-Denis Hachmeister, Experte für Hochschulzugang beim CHE. „Das heißt, dass die Wahl des Studiengangs oder des Studienfachs für die Studierenden nicht optimal war.“
Aktuelle Daten aus dem Bericht „CHECK Hochschulzugang und Studieneingang in Deutschland“ zeigen, dass Hochschulen auf diese Situation reagiert haben. Vergleichswerte von 2021 und 2024 belegen einen verstärkten Einsatz von Self-Assessment-Tools und Unterstützungsmöglichkeiten zu Studienbeginn.
Mehr als die Hälfte der Fachbereiche nutzt Self-Assessment-Tools
Self-Assessment-Tools bieten eine gute Möglichkeit zur Selbsteinschätzung der Eignung für einen Studiengang. Sie umfassen leistungsbezogene Aufgaben und Fragen zu Interessen und Persönlichkeit, wobei nur die Studieninteressierten das Ergebnis erhalten.
Aktuell setzen 52 Prozent der Fachbereiche an deutschen Hochschulen solche Tools ein – 2021 lag der Anteil noch bei 40 Prozent. Besonders im Bereich Pharmazie (94 Prozent) und Wirtschaftswissenschaften (79 Prozent) sind Self-Assessments weit verbreitet.
Ausbau der Unterstützungsangebote durch Vor- und Brückenkurse
Vor- und Brückenkurse helfen Erstsemesterstudis, Wissenslücken vor Studienbeginn zu schließen und sich mit den Anforderungen und der Struktur des Studiums vertraut zu machen. Der Anteil der Fachbereiche mit solchen Angeboten ist von 67 Prozent (2021) auf 77 Prozent (2024) gestiegen.
Fast alle Fachbereiche bieten eine individuelle Studienverlaufsberatung an, und vier von fünf Fachbereichen führen Erstsemester-Tutorien durch. Zwei Drittel der Fachbereiche geben eine semesterbegleitende Rückmeldung zum Lernerfolg.
Frühwarnsysteme zur frühzeitigen Erkennung von Studienabbrüchen werden in 48 Prozent der Fachbereiche eingesetzt, um rechtzeitig gezielte Unterstützung anbieten zu können.
Neben einer guten Unterstützung beim Studienstart ist es wichtig, flexible Übergänge und eine gegenseitige Anerkennung zwischen beruflicher und akademischer Bildung zu ermöglichen. „Ein Wechsel von einem Studium in eine passende Ausbildung sollte als normaler Teil des Bildungswegs betrachtet werden und nicht als persönliches Versagen“, betont Cort-Denis Hachmeister. Dafür braucht es in Deutschland jedoch besser vernetzte Angebote in der nachschulischen Bildung.
Fazit
Ja, liebe Personaler und Personalerinnen, spannend, oder?
Auch Hochschulen haben in beträchtlichem Maße mit dem Thema „Retention“ zu kämpfen, auch wenn es dort anders heißt. Aber es wird massiv investiert, um diese Situation zu verbessern – mit Realistic Preview, mit Self-Assessments, mit Vor- und Brückenkursen sowie Studienverlaufsberatung.
All diese Lösungen lassen sich mehr oder weniger 1:1 auf den Kontext der Personalgewinnung übertragen, auch wenn wir da teilweise andere Begriffe verwenden.
Wenn man das beherzigt, dann – aber auch nur dann – wird aus der Formel „Retention ist das neue Recruiting“ ein Schuh…
Die Untersuchung des CHE kann man übrigens hier kostenfrei herunterladen: https://www.che.de/download/check-hochschulzugang-2024
„Retention ist das neue Recruiting!“ Ist einfach einer von vielen oberflächlichen LinkedIn Trends – die wie fast alles auf dieser Plattform – ohne kritisch zu denken nachgeplappert werden. Ein Tag geht es um Retention und den Tag drauf postet die selbe Person, dass man alle 3 Jahre den Job wechseln muss.
Augen auf bei der Berufswahl :-)