Mit anonymisierter Bewerbung gegen Auswahl-Bias und Diskriminierung – das Beispiel anonyfy

Ein mehr an Diversity im Unternehmen ist sinnvoll: Eine ganze Reihe von Studien belegt den positiven Zusammen zu betriebswirtschaftlichen Zielen (Mitarbeiterzufriedenheit, Innovativität, Umsatz(wachstum) etc.). Exemplarisch sei etwa auf die Untersuchung “Diversity und Inclusion” von PwC aus dem Jahr 2019 verwiesen.

Ein maßgeblicher Fehler, den viele Unternehmen immer noch machen und der auch zu weniger Diversität führt, ist im Recruiting eigentlich geeignete Kandidaten und Kandidatinnen zu früh und vor allem fälschlich auszusortieren – man spricht in diesem Zusammenhang auch von “False-Negative- bzw. Beta-Fehler” oder auch vom Auswahlfehler zweiter Art… Es werden also viele Personen bereits aussortiert, bevor man überhaupt beginnt, systematisch herauszufinden, ob diese eigentlich gepasst hätten.

Dieser Fehler tritt insb. bei der Vorauswahl von Menschen auf, deren Namen (vermeintlich) auf einen familiären Hintergrund aus anderen Kulturräumen schließen lassen. So belegte die Studie Ethnische Hierarchien in der Bewerberauswahl: Ein Feldexperiment zu den Ursachen von Arbeitsmarktdiskriminierung (Koopmans, Veit, Yemane) etwa eine 30% geringere Einladungswahrscheinlichkeit zum Job-Interview bei ausländisch klingendem Namen. Vergleichbare Effekte zeigen sich aber auch in Bezug die Merkmale Alter, Geschlecht oder sogar hinsichtlich der äußeren Attraktivität von BewerberInnen.

Die Ursache hierfür liegt meist in der sog. “Social Identity” und nahezu unvermeidlichen Vertrautheitsbiases in der Auswahl.

Um eben diese zu vermeiden, werden seit einiger Zeit anonymisierte Bewerbungsverfahren diskutiert und in Teilen durchaus auch schon (erfolgreich) praktiziert. Ein Anbieter, der sich genau darauf spezialisiert hat, ist die Münchner Plattform anonyfy. Weil mich das die Frage, wie sich Falsch-Negativ-Selektion vermeiden lässt wirklich schon lange massiv umtreibt und weil ich in diesem Zusammenhang insb. anonymisierte Bewerbungsverfahren sehr spannend finde, habe ich mir anonyfy-Gründerin Sandra Zemke mal zum Interview geschnappt und sie hierzu ausgefragt.

Los geht´s…

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Sandra, wie der Name deines Unternehmens „anonyfy“ ja bereits ein wenig andeutet, geht es bei euch ja irgendwie um Anonymisierung im Bewerbungsprozess. Wie muss ich mir das genau vorstellen, was Ihr macht?

Ich schaffe mit anonyfy eine Plattform, die anonymes Bewerben ermöglicht. Wir anonymisieren den CV umfassend, und bieten auf der Plattform zwei faire und valide Runden für die Vorauswahl von Kandidat*innen. Dies passiert alles auf anonyfy, und die Kandidat*innen haben die Kontrolle darüber, wann und ob die Unternehmen ihr volles Profil zu sehen bekommen – und anonyfy sorgt für den fairen Prozess.

Das Thema ist ja nicht neu: seit Jahrzehnten schwirrt der Begriff „anonyme Bewerbung“ schon herum – propagiert von der Wissenschaft, weitestgehend ignoriert und gefürchtet von der Wirtschaft. Ich habe mit einigen Menschen in Firmen und Behörden gesprochen, die anonymes Recruiting einmal ausprobiert haben, und warum sie es nicht mehr tun, warum es nicht praktikabel war. Diese Erkenntnisse habe ich im Konzept von anonyfy verarbeitet – denn eines ist klar: es gibt Diskriminierung im Recruiting, und ich biete einen Weg, hier ernsthaft etwas zu verbessern.

Warum ist das aus deiner Sicht wichtig? Also, was läuft schief, wenn Informationen wie Name, Geschlecht, Alter etc. bekannt sind?

Name, Geschlecht, Alter, Ex-Arbeitgeber, Hobbies, das Foto, Bildungseinrichtungen … all diese Dinge können zu unbewussten Verzerrungen (unconscious Bias) führen.

Zum Beispiel kann ein sehr renommierter Ex-Arbeitgeber viele andere Eigenschaften durch den Halo-Effekt überstrahlen – wie oft lesen wir z.B. „Ex-McKinsey“ stolz im Profil – das ist Kalkül, und es wirkt.

Haben wir zum Beispiel das gleiche Hobby wie die einstellende Person, kann leicht ein in-Group-Bias entstehen, indem wir uns gegenseitig direkt sympathisch finden. Und bei bestimmten Hobbies oder Bildungseinrichtungen entstehen hier auch leicht klassistische Effekte – zum Beispiel eine Gemeinschaft ehemaliger Privatschüler*innen oder Polo-Spieler*innen, die Menschen aus niedrigen sozialen Schichten kategorisch ausschließt. Und diese Verzerrungen sind menschlich, biologisch mitunter auch ausgesprochen sinnvoll, und können im Grunde nicht verhindert werden. Sie sind z.B. sinnvoll, wenn ich einen Babysitter suche, oder eine neue beste Freundin. Wenn ich aber ein möglichst innovatives Team zusammenstellen möchte, sind sie eben äußerst hinderlich.

Jetzt könnte man ja ketzerisch sagen: Wer diskriminiert – egal ob gewollt oder unconscious – der diskriminiert. Ab einem gewissen Punkt des Auswahlprozesses werden Merkmale wie Geschlecht, Alter, Ethnie etc. ja auf jeden Fall erkennbar. Warum macht es aus deiner Sicht trotzdem Sinn, wenn diese Merkmale aber erstmal weggelassen werden?

Klar ist es so, dass man sich irgendwann von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht – und dann im Grunde alle Biases wieder wirken können. Was ich jedoch mit der anonymen Bewerbung gewinne, ist zunächst eine Öffnung des Prozesses, so dass ich nicht nur mehr und andere Menschen anspreche und einlade, sich zu bewerben, sondern auch andere Personen durchlasse, sofern sie die objektiven Kriterien erfüllen. Ich habe zudem die Chance, den berühmten ersten Eindruck zu verändern, wenn er anonymisiert passiert.

Wenn ich den Menschen mit seinen Qualifikationen, Erfahrungen und Werten interessant finde, kann ich jetzt mit Spannung erwarten, was für eine Person am Ende vor mir sitzt. Und dann ist der erste Eindruck ein gänzlich anderer, als es mir der personalisierte CV mit Foto womöglich produziert hätte. Und die wenigsten Menschen diskriminieren ja bewusst und geplant.

Führt das Weglassen von Information nicht in der Tendenz dazu, dass man jemanden weniger genau beurteilen kann? Oder konzentriert man sich so eher auf die eigentlich entscheidenden Merkmale? Ich spiele ein wenig auf den berüchtigten Auswahlfehler zweiter Art an, also die Gefahr, dass man jemanden fälschlicherweise zu früh aussortiert, weil man nicht erkannt hat, dass diese Person sehr wohl passen könnte. Diese Falsch-Negativ-Auswahl ist für mich immer sowas wie das Kohlenmonoxid der Personalauswahl: Ist giftig, aber man kann es weder sehen noch schmecken oder riechen…

Was wir versuchen ist, eben genau die Informationen zu zeigen, die WIRKLICH relevant sind. Zum Beispiel ist ja selten wirklich das konkrete Datum relevant, wann jemand irgendwo gearbeitet hat. Was interessiert, ist: war die berufliche Station besonders kurz, war sie besonders lang, oder wechselt diese Person regelmäßig nach einem bestimmten Zeitraum. Dafür brauche ich nicht Tag, Monat und Jahr, sondern eben Zeiträume. Und leider wissen wir auch, dass bestimmte Informationen zu Diskriminierung führen, somit lassen wir sie einfach weg, damit sie nicht stören. Wir wissen zum Beispiel, dass Frauen, die kürzer als gewöhnlich in Elternzeit waren, im Recruiting diskriminiert werden. Oder andere Menschen, die mit Stereotypen brechen. So etwas finden Menschen gemeinhin störend, unangenehm, seltsam. Es hat aber nichts mit der Qualifikation für die Stelle zu tun.

Und was Du ansprichst, stimmt, viele Menschen haben das GEFÜHL, sie haben bei einer anonymen Bewerbung weniger Informationen zur Verfügung. Jedoch haben wir lediglich die Informationen entfernt, die ohnehin nicht relevant sind. Offenbar haben wir diesen in der Vergangenheit zu viel Relevanz zugebilligt.

Ich bin übrigens absolut der Meinung, dass ein CV allein nicht ausreicht, um eine Entscheidung zu fällen. Deswegen ist bei anonyfy auch nie der CV allein die Entscheidungsbasis.

Was bezieht Ihr noch ein?

Zu einer Bewerbung gehört neben dem CV immer noch etwas mehr Information. In unserer ersten Version werden das spezifische Fragen sein, in den nächsten Versionen werden wir valide Diagnostik mit anbieten. Die Screening-Fragen sind klassischerweise Fragen zu Sprachkenntnissen, konkreten benötigten Abschlüssen oder zur Motivation, die kurz und sehr spezifisch angefragt werden können. Hier bilden wir auch Elemente des Motivationsschreibens ab, das heute die wenigsten Menschen noch anfertigen, und noch weniger wirklich lesen.

Wir kommen zum Ende, auch wenn es sicher noch unheimlich viel mehr zu diesem Thema zu sagen gäbe. Letzte Frage: Was gibt es an zählbaren Resultaten? Hast du da Befunde? Ich stelle mir das nicht so ganz einfach vor, weil es hier ja vor allem darum geht, einen Fehler zu vermeiden – einen Fehler, von dem man weiß, dass es ihn gibt, aber den man eben meist gar nicht quantifizieren kann…

Wir haben zum Beispiel einen sehr eindrücklichen Fall gesehen, bei dem alleine durch die Ankündigung in der Jobanzeige, dass es einen anonymen und möglichst vorurteilsfreien Prozess geben würde, die Anzahl der Bewerbungen um über 3000 % (!!!) stieg. Das war nicht ganz repräsentativ, da sowohl die Stelle ein recht offenes Anforderungsprofil und eine hohe Attraktivität hatte und auch noch in einer attraktiven Stadt verortet war. Trotzdem zeigt dies, wie wichtig das Thema bei den Talenten aufgehängt ist.

Eigene Recherchen ergaben außerdem, dass sich die Anzahl der sich bewerbenden Frauen eklatant erhöht, das mag sicher interessant für die Branchen und Positionen sein, die Mühe haben, Frauen zu rekrutieren.

Ich danke dir vielmals für deine Zeit und deine Antworten. Ich bin sehr gespannt, wie sich das Thema weiter entwickeln wird. Wir bleiben dran!

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