Es ist der Anstand im Umgang, stupid! Ergebnisse der ´Candidate Experience Studie 2014´

Auf der Recruiting2015 vor zwei Wochen hatten wir uns das Thema als krönenden Abschluss aufgespart – Candidate Experience.

Das Leitthema der Tagung war eigentlich Orientierung und dabei vor allem auch die Frage, wie diese dazu beitragen kann, die etwaigen Auswirkungen des vielzitierten Fachkräftemangels zu lindern. Nun, eine verbesserte Orientierung schafft für sich genommen natürlich nicht mehr Fachkräfte. Aber: Das vorhandene Potential wird schlichtweg besser genutzt. Wenn jemand nicht erst jahrelang herumirren muss, bis er den passenden Beruf und / oder das passende Unternehmen gefunden hat, kann er halt früher sein Potential da einbringen, wo es passt. In einer verbesserten Orientierung liegt also eine Chance, die drohende und von vielen Unternehmen und Verbänden inzwischen beklagte Lücke am Arbeitsmarkt zu schließen.

Womit wir beim „Beklagen“, man könnte auch „Wehklagen“ sagen, wären. Und beim Thema Candidate Experience…

Wie hängt das zusammen?

Wie gesagt, viele Unternehmen beklagen inzwischen, dass es alles so viel schwerer geworden ist mit der Besetzung der offenen Stellen und rufen dann – phonetisch entsprechend verstärkt durch ihre interessenvertretenden Verbände – „Fachkräftemangel“. Daran geknüpft ist dann oft die Forderung, dass doch mal endlich jemand etwas tun müsse… Die Politik vor allem: Mehr Betreuungsangebote für Kinder (damit auch die Mamas endlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen), mehr (qualifizierte) Zuwanderung (kann doch nicht so schwer sein bei 54% Jugendarbeitslosigkeit in Spanien), Verkürzung von Schul- und Studienzeiten oder Verlängerung der Lebensarbeitszeit und ach ja, die Schulen mögen sich doch bitte mal um die Verbesserung der Berufsorientierung kümmern. Um nur ein paar der Heilmittel aufzuzählen.

Ja, das ist alles richtig. Aber vor allem und zuallererst sind die Unternehmen selbst gefordert!!!

Und damit wären wir bei der Candidate Experience.

Es ist nicht wirklich akzeptabel, wenn auf der einen Seite das Schreckgespenst „Fachkräftemangel“ an die Wand gemalt wird, während man sich gleichzeitig gegenüber seinen Bewerbern verhält, als wären sie Bittsteller. Wer hier Beispiele sucht, dem sei das bereits vielfach zitierte Buch Mythos Fachkräftemangel von Martin Gaedt wärmstens ans Herz gelegt.

Es ist kein Zufall, dass das Thema Candidate Experience im Moment so die Gemüter bewegt, denn in Zeiten knapper werdenden Potentials am Arbeitsmarkt liegt insbesondere in der Art und Weise wie mit Bewerbern umgegangen wird, ein echtes Differenzierungsmerkmal. Oder anders: Wenn es schon so schwierig sein soll, in hinreichender Zahl geeignete Kandidaten zu einer Bewerbung zu bewegen, dann sollten wirklich alle Berührungspunkte mit diesen Kandidaten (neudeutsch „Candidate Journey“ von der Orientierung und Jobrecherche bis zur Ergebniskommunikation) auch so beschaffen sein, dass dieser nicht gleich wieder nachhaltig vergrault wird.

Candidate_Journey

(Quelle: Candidate Experience Studie 2014)

Dass das keine einfache Aufgabe ist, ist mir klar. Birger Meier von Boehringer Ingelheim berichtete auf der Recruiting2015 davon, dass sie bei Boehringer einmal den Versuch unternommen haben, alle möglichen Touchpoints aufzulisten, die ein Kandidat mit dem Unternehmen haben kann. Dabei kam man auf die schwindelerregende Zahl von 170!

Touchpoints_CandidateExperience

(Quelle: Birger Meier, Tim Verhoeven)

Dass es kein Selbstgänger ist, diese alle auf Spur zu bringen oder anders formuliert „so auszugestalten, dass sie eine positive und die Employer Brand stärkende Erfahrung darstellen“, leuchtet ein. Aber hey, es ist alternativlos!

Candidate Experience Studie 2014

Nun haben Christoph Athanas von metaHR, Peter M. Wald von der HTWK Leipzig und stellenanzeigen.de eine ambitionierte Studie vorgelegt, wie es mit der Candidate Experience in Deutschland denn tatsächlich so ausschaut.

Für die „Candidate Experience Studie 2014“ wurden im Zeitraum Juni bis August 2014 die individuellen Bewerbungserlebnisse von 1.379 Personen in ihrem jeweils letzten Bewerbungsprozess ausgewertet.

Die Ergebnisse fördern dabei eindrucksvoll vieles von dem zu Tage, was wir in der Szene schon lange diskutieren:

  • Kandidaten mögen E-Mail Bewerbungen. Sie mögen Bewerbungsformulare nicht so sehr.
  • Es ist Kandidaten wichtig, jederzeit über den Status ihrer Bewerbung informiert zu sein.
  • Der Bewerbungsprozess sollte flott gehen, am besten innerhalb von 2 Wochen.
  • Es wird zunehmend auch mobil nach Jobs und Stellen gesucht.

Diese Punkte hier nur in aller Kürze aufgelistet. Wer das detaillierte möchte, der schaue mal bei der Wollmilchsau vorbei oder bestelle sich direkt bei metaHR die ganze Studie.

Klar, das alles ist wichtig und sicherlich zur Verbesserung der Candidate Experience entsprechend anzupacken. Aber die Diskussion nur auf die prozessuale Ebene zu reduzieren, greift erheblich zu kurz. Wie lange es dauert, bis der Bewerber eine Eingangsbestätigung für seine Bewerbung erhält (wenn überhaupt…), ob die Karrierewebsite SEO-optimiert ist und ob man sich (schon) mobil bewerben kann, all das ist wichtig und gehört auf die Agenda, aber – und das ist eine gute Nachricht – die Früchte hängen eigentlich erheblich tiefer!

Ehrlichkeit, Anstand, Respekt, Wertschätzung, Verlässlichkeit, Freundlichkeit…

Was sich anhört wie eine Aufzählung dessen, was man vielleicht mit „gute Kinderstube“ zusammenfassen kann, ist das eigentlich entscheidende bei der ganzen Diskussion um Candidate Experience.

Wie gehen wir als Unternehmen mit unseren Bewerbern um?

Sind wir genervt, wenn ein Bewerber sich telefonisch nach dem Stand seiner Bewerbung erkundigt? Heißt es, „bitte sehen Sie von telefonischen Nachfragen ab“? Nein, davon dürfen wir nicht genervt sein. Der Kandidat hat ein legitimes und nachvollziehbares Interesse! UND: Wir haben das Interesse auch! Sonst hätten wir die Stelle ja gar nicht auszuschreiben brauchen.

Halten wir uns an unsere Zusagen? Rufen wir einen Bewerber auch am Freitag zurück, wenn wir sagen, dass wir am Freitag zurückrufen? Ja, das müssen wir! Niemand will zur bestellten Zeit vorm Kino warten und dann kommt der andere einfach nicht.

Finden wir es unangemessen, wenn ein Bewerber – sinngemäß – fragt, warum er für uns arbeiten sollte, wenn er wissen will, was uns als Unternehmen denn attraktiver macht als das Unternehmen nebenan? Nein, sollte es nicht, denn das wollen wir von ihm ja auch wissen…

Es sind oft und primär ganz basale Merkmale, die eine positive von einer negativen Candidate Experience unterscheiden. Ich habe das vor einiger Zeit in einem Interview mit dem Human Resources Manager schon einmal gesagt:

Ich glaube aber, dass Augenhöhe letztlich viel mehr davon abhängt, ganz basale Grundtugenden wie Freundlichkeit, Verlässlichkeit und entgegengebrachte Wertschätzung zu beherzigen.

Augenhöhe zeigt sich auch in Prozessen, vor allem aber ist es eine Frage der Grundhaltung: Sehen wir Bewerber als Bittsteller oder sehen wir sie auf Augenhöhe?

Und hierfür finden sich nun in der Candidate Experience Studie handfeste empirische Belege:

CandidateExperienceStudie1CandidateExperienceStudie2CandidateExperienceStudie3CandidateExperienceStudie4

Es sind vor allem diese Punkte, bei denen die Einschätzung derer, die im Rahmen ihrer Bewerbung insgesamt eine schlechte und denen, die insgesamt eine gute Erfahrung gemacht haben, besonders stark voneinander abwichen.

Im Umkehrschluss: Wer mit seinen Bewerbern anständig, respektvoll, wertschätzend, verlässlich und freundlich umgeht, der punktet auch mit positiver Candidate Experience. Da kann auch die Karriere-Website vielleicht noch nicht mobiloptimiert sein oder der Auswahlprozess mal ein paar Tage länger dauern.

Und Ehrlichkeit, Anstand, Respekt, Wertschätzung, Verlässlichkeit und Freundlichkeit sind vor allem EINSTELLUNGSSACHE, keine Frage von Prozessen. Die Autoren der Candidate Experience Studie 2014 bringen es daher auch sehr schön auf den Punkt:

Wie die Werte zeigen, müssen alle drei Vertrauensbereiche angesprochen werden, um eine positive Candidate Experience zu schaffen. Allerdings stechen die emotionale Faktoren heraus. Hier sind die Unterschiede zwischen Bewerbungsverfahren, welche negative und denjenigen, welche positive Bewerbererlebnisse hinterlassen besonders groß. Das bedeutet, rekrutierende Unternehmen müssen darauf achten, dass Sie den Bewerbern auf Augenhöhe und möglichst individuell begegnen und so ihre Wertschätzung ausdrücken:

Den Bewerber als Partner sehen!

Wenn also das nächste Mal das Thema Candidate Experience auf den Tisch kommt, und ich verspreche Euch, das wird es in der nächsten Zeit immer öfter…, dann fragt vielleicht auch mal, ob Ihr eure Bewerber wirklich so behandelt, wie jemand, von dem Ihr was wollt. Manchmal hilft ein Benimmkurs oder die simple Frage „möchte ich so behandelt werden?“ vielleicht mehr als das nächste Meeting mit der IT, wie denn schnellstmöglich die One-Click-Bewerbung eingeführt werden kann. Die hilft nämlich auch nicht, wenn sich der Kandidat nachher gar nicht bewerben MAG!

7 Gedanken zu „Es ist der Anstand im Umgang, stupid! Ergebnisse der ´Candidate Experience Studie 2014´

  1. Hallo Herr Diercks,

    als Senior Recruiter im Engineering und Technik-lastigen Bereich war ich bis jetzt eigentlich immer mit den o.g. Werte-Einstellungen unterwegs. Man kann auch ganz einfach sagen: ich möchte bitte die Wertschätzung zeigen, welche ich doch auch als Bewerber gerne erwarte (oder als Kunde).

    Spannend oder eher halt traurig, dass im 21.-Jahrhundert eine empirische Studie braucht, die dies noch einmal aufzeigen muss. ;-))

    Ich denke, genauso wie man seinen Kindern den Respekt für die Natur und die Mitmenschen vermitteln muss, sollte dies auch wieder ein Thema für die werten Akademiker (m/w) sein, die irres Geld für tolle Abschlüsse ausgeben und es dann doch an der vermeintlich einfachsten Stelle – im zwischenmenschlichen Miteinander – nicht auf die Reihe bekommen.

    Mein Highlight war mein letztes Bewerbungsverfahren gerade. Nicht, dass einem dauernd der CV mit erhobenen Zeigefinger um die Ohren gehauen wird, nein, es gab auch potentielle AG die weder erreichbar waren, noch sich darüber einig wurden, ob ein Recruiter überhaupt notwendig sei.

    Meine Antwort war dafür offen und wertschätzend: ja, auf alle Fälle! Denn ich hätte auch ein Ingenieur sein können und dann wäre dort ganz direkt ein Fachkräftemangel aufgrund fortgeschrittener Inkompetenz entstanden. Aber hinterher ist auf allen Seiten das Geschrei ganz groß.

    Und auch wichtig, u.a. eine Vertriebsweisheit: jedes Talent kennt eventuell weitere Talente in seinem Umfeld und handelt als Empfehlungsgeber oder auch nicht. Nach einfachen Berechnungen sind also gleich einmal ein paar Handvoll Talente pro Vorgang weg. Dann mal viel Spaß beim Rekrutieren! ;-))

    Vielen Dank für die o.a. Zusammenfassung und Ihre bisherigen Artikel.

    Mit freundlichen Grüßen
    Marc Mertens

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