15-Sekunden.de – die möglicherweise radikalst-niedrigschwellige Bewerbungsmöglichkeit überhaupt. Bei Daimler TSS

Es ist ein wenig stiller geworden um “das nächste große Hypethema” Mobile Recruiting… Sicher: Das Thema ist nach wie vor wichtig, wahrscheinlich wichtiger als je zuvor, aber es taugt meines Erachtens nicht zum großen Big Bang.

Vielmehr, so mein Eindruck, haben die Unternehmen durchaus vernommen, dass sie das Thema auf die Agenda heben müssen und gehen es auch an. Klar, das dauert speziell in größeren Organisationen manchmal so “seine Zeit”, aber mir begegnet eigentlich kein Personaler mehr, der sagt, dass man sich da nicht drum kümmere oder kümmern wird.

Aber, und auch das habe ich mehrfach betont, Mobile Recruiting ist differenziert zu betrachten. Vordringliches Augenmerk sollte momentan auf der Mobilmachung der Arbeitgeberkommunikation liegen, also vor allem der Karriere-Website.

Der eigentliche Recruitingprozess, also die Bewerbung durch den Kandidaten und etwaige Auswahlschritte des Unternehmens, kann durchaus noch – zumindest in wichtigen Teilen – über das zwar etwas “sperrigere”, dafür aber auch weniger “flüchtige” Device Desktop ablaufen.

Wir werden bspw. häufiger gefragt, ob man unsere Online-Assessments auch auf dem Handy absolvieren kann. Die Antwort lautet: “Ja, kann man, aber sollte man nicht.” Und auch die Unternehmen sollten nicht den Eindruck vermitteln, dass man sollte…

Warum? Nun, ein und dieselben Testinhalte sind rein diagnostisch auf dem Smartphone eben nicht mehr dasselbe wie auf einem Device mit größerem Bildschirm. Das Device selber wird zu einer sog. moderierenden Variable. Die unterschiedliche Usability führt dazu, dass Testergebnisse, die über eine Smartzphone-Nutzung entstanden sind, nicht mehr mit Testergebnissen (derselben Testinhalte wohlgemerkt) auf einem Desktop-Rechner oder Tablet vergleichbar sind. Einem Bewerber zu suggerieren (möglicherweise aus einem falschverstandenen vorauseilenden Gehorsam heraus, eine möglichst mobile Candidate Experience anbieten zu müssen), er könne chancengleich den Test auch auf dem Smartphone absolvieren, wäre unfair und letztlich das genaue Gegenteil einer guten Candidate Experience.

Zweitens: Es wird häufig argumentiert, dass man sich in Zeiten von Fachkräftemangel und War for Talent keine (Bewerbungs-)Barrieren mehr leisten könne, weshalb eben eine Bewerbung nur noch eine One-Click-Bewerbung zu sein habe. Hmm. Das gehe ich mit, wenn es sich um wirkliche Mangelprofile handelt, also solche, wo das Unternehmen wirklich froh sein sollte über jeden Kandidaten, der ein etwaiges Interesse an einer Beschäftigung im Unternehmen äußert. Aber wo soll der Sinn liegen, Barrieren bei Profilen abzubauen, wo es genügend gute Kandidaten auch so gibt? Im Ergebnis würde dies nur dazu führen, dass der Sichtungs- und Auswahlprozess noch ressourcenintensiver würde mit dem Ergebnis, dass sich das Recruiting um jeden einzelnen Kandidaten weniger intensiv kümmern kann (gemäß der Noise-Signal-Theorie wird es bei mehr Noise schwerer, das Signal zu identifizieren…). Auch hier also würde eine beabsichtigte Verbesserung der Candidate Experience am Ende eher das genaue Gegenteil bewirken.

Nein, nicht dass Ihr mich jetzt falsch versteht. Ich meine mit Barrieren nicht Schikanen. Also: Das Online-Bewerbungsformular soll und darf kein Folterinstrument sein und muss natürlich technisch stabil, mit vertretbaren Lade- und Reaktionszeiten und vernünftiger Usability laufen. Aber es muss eben (noch) nicht in allen Fällen mobile und schon gar nicht One-Click sein…

Also: Mobile Recruiting ja. Aber erstens nur für die Auswahlschritte, die sich hierfür auch eignen und zweitens nach Möglichkeit auch – vorerst – nur für Profile, bei denen wirklicher Mangel herrscht.

Die 15-Sekunden-Videobewerbung bei Daimler TSS

Um genau solche Mangelprofile dürfte es sich allerdings handeln, wonach die IT-Tochter von Daimler – Daimler TSS – sucht.

Und genau daher schien es auch genau hier angebracht zu sein, den Bewerbungsprozess tatsächlich einmal komplett umzukrempeln, offenkundig mit dem Bestreben, etwaige Bewerbungsbarrieren für Kandidaten wirklich auf ein absolutes Minimum zu reduzieren.

Das Ergebnis: Die 15-Sekunden Bewerbung

Witzigerweise erregte erst vor Kurzem die Bewerbungsmöglichkeit des Kinderspitals Zürich ebenfalls unter dem Schlagwort “15-Sekunden-Bewerbung” einiges an Aufsehen. Dort geht es um die Rekrutierung von Pflegefachpersonal, also auch einem Bereich, dem echter Fachkräftemangel nachgesagt wird, was insofern meine Eingangsthese oben stützt. Wer sich für den Ansatz der Züricher interessiert, der werfe mal einen Blick auf den Blog von Jörg Buckmann.

Doch zurück zu Daimler TSS. Die gehen nämlich noch einen etwas anderen Weg als die Schweizer – über eine Video-(Initiativ-)Bewerbung… Der Reihe nach:

Das Ganze startet über die (natürlich mobiloptimierte) Microsite 15-Sekunden.de.

15Sekunden

Als ersten Schritt lädt man ein kurzes Selfie-Video von sich hoch. Dieses kann und soll möglichst kurz sein (“15-Sekunden”), man stellt darin sich selbst kurz vor und gibt eine Begründung an, warum man möglicherweise für Daimler TSS interessant sein könnte.

15Sekunden_Ablauf_Schritt1

Mehr nicht.

Das geht übrigens über einen Desktop-Rechner, indem man die Webcam aktiviert. Einfacher ist es allerdings deutlich über das Smartphone, wo nicht nur auf jeden Fall eine Kamera vorhanden ist, sondern auch der Umgang mit selbiger erheblich geübter ist…

15Sekunden_Desktop

In Schritt 2 verknüpft man das zunächst mal ja anonyme Video mit personenbezogenen (und letztlich beurteilungsrelevanten) Daten. Dies geschieht, indem man sich mit XING-, LinkedIn- oder Facebook-Account oder der eigenen E-Mail anmeldet.

15Sekunden_Ablauf_Schritt2

Hier dürften wahlweise das XING- oder das LinkedIn-Profil am meisten Sinn machen, weil darin ja vermeintlich die meisten Informationen stecken, die dem Recruiting bei Daimler TSS dann als Grundlage zur Beurteilung des Kandidaten dienen…

…denn das ist genau das, was nun folgt: Bei Daimler TSS macht sich ein Recruiter an die Arbeit und sichtet sowohl das eingereichte Video und die Informationen, die sich aus dem jeweiligen Profil (und wenn er ein guter Sourcer ist natürlich auch aus anderen) ergeben.

15Sekunden_Ablauf_Schritt3_4

Während also für den Bewerber an dieser Stelle bereits erst einmal alles erledigt ist…

…prüft ein Recruiter bei Daimler den Bewerber, generiert mögliche Fragen an diesen und meldet sich dann möglichst zeitnah bei diesem zurück…

Bei mir dauerte es übrigens gerade einmal 2 Stunden (maximal nimmt Daimler TSS sich 72 Stunden) und ich bekam einen Anruf von einem technischen Recruiter von Daimler TSS, der sich offenbar mit meinem XING-Profil beschäftigt hatte (wenngleich von einem Recruiter-Account, denn ich konnte ihn nicht als Profil-Besucher in meinem XING-Account sehen).

Gut, ich selber wollte mich ja nicht bei Daimler TSS bewerben (was auch aus meinem eingereichten Video ersichtlich wurde…), aber ich habe die Gelegenheit trotzdem dann gleich mal genutzt, um zu erfahren, wie es denn nun “eigentlich” weiterginge.

Der Recruiter, in diesem Fall seines Zeichens selber Wirtschaftsingenieur, generiert also auf Basis der Profilinformationen und des Videos gezielte Fragen. Diese werden dann im Rahmen des Telefonats besprochen. Aus all diesen Informationen fertigt der Recruiter von Daimler TSS dann ein – ich nenne es mal – Exposé über den Kandidaten an und macht sich damit dann intern auf die Suche nach einer passenden Stelle.

Sofern es diese gibt, folgt dann das Vorstellungsgespräch, bei Daimler TSS und mit der Fachabteilung.

15Sekunden_Ablauf_Schritt5

Und wenn das gut läuft, naja, das wisst Ihr selber…

Fazit

Als ich vor ein paar Monaten über die Lösungen der beiden Startups Talentcube und PREPARO berichtete war ich doch eher noch skeptisch, ob sich solche Ansätze, also “die Bewerbung zu ersetzen durch kurze Selfie-Videos”, durchsetzen würden.

Auch wenn ich bei der oben beschriebenen Sichtweise bleibe, dass derartige Ansätze zunächst einmal nur für ausgewählte Zielgruppen (“Mangelprofile”) Sinn machen, zeigt das Beispiel “15-Sekunden” von Daimler TSS einen sehr schönen Praxiscase, wie es funktionieren kann.

Ob die Zielgruppe hier auch mitspielt? Tja, darüber kann momentan nur gemutmaßt werden. Auch bei Daimler TSS wird es dazu noch keine verlässlichen Kennzahlen geben, denn das Ganze läuft ja erst seit ein paar Tagen.

Und entscheidend wird am Ende auch weniger die – ich nenne es mal bewusst etwas despektierlich – “Spielerei” mit dem Video zu Beginn sein, sondern die Funktionalität und Reibungslosigkeit des Prozesses, der dann auf Unternehmensseite abläuft. Im Falle von Daimler TSS läuft es ganz offenbar wirklich so, dass es einen Prozess gibt, bei dem (fachlich) qualifizierte Recruiter mit Sourcing-Know how den Hauptteil der Arbeit übernehmen.

Das ist natürlich aufwendig, aber man kann natürlich nicht über Fachkräftemangel lamentieren und gleichzeitig meinen, dass alles beim Alten bleiben kann…

Mein Fazit zu den 15-Sekunden von Daimler TSS: Nicht schlecht… Ich bin mehr als gespannt, wie es am Ende performt…

Was meint Ihr?

P.S. Zu der gleichen Thematik findet sich auf dem HR Today Blog ein schöner kleiner Podcast von Etienne Besson, in der ebenfalls für diese “differenzierte” Sichtweise auf das Thema “vereinfachte Bewerbung” geworben wird…

*****

Nachtrag, 05.08.2016:

Nach den ersten Monaten im Realeinsatz gibt es nun die ersten Resultate zur 15-Sekunden-Bewerbung. Hier nachzulesen im Blog von Jörg Buckmann.

12 Gedanken zu „15-Sekunden.de – die möglicherweise radikalst-niedrigschwellige Bewerbungsmöglichkeit überhaupt. Bei Daimler TSS

  1. Ich finds genial, Jo, dass sich jemand an die Umsetzung getraut hat! Und bin höllisch gespannt wie es von der Zielgruppe angenommen wird. Danke dir für den sehr aktuellen Einblick in die Praxis…weißt du wer der Anbieter hinter ist?
    Herzlich, Nino

  2. Wirklich gut gemacht, finde ich! Jetzt wäre es noch interessant zu wissen, wie viele Bewerbungen eingehen und welche Qualität diese haben. Je nach Anzahl könnte das eine Menge Handarbeit für die Recruiter bedeuten.

    Die Kombination von “15 Sekunden” mit einem Pre-Matching auf passende Stellen wäre deshalb ggf. spannend, um Fehlbewerbungen, die ja auch gesichtet und beantwortet werden müssen, zu vermeiden. (Aber vielleicht ist Daimler hier auch kein händischer Aufwand zu viel. Und einen guten Eindruck macht es ja allemal.)

  3. Ich habe mich beim Thema Video-Bewerbung gefragt, ob es sauber mit dem AGG zu vereinbaren ist. Die Videos zeigen mindestens einen “Hinweis” zum Geschlecht, Ethnie, Alter, Behinderung. Man könnte ggf. dem Unternehmen unterstellen, dass Bewerbungen über diesen Weg bevorzugt werden oder aufgrund des Videos selektiert wird.

  4. Hallo Nino, das ist in diesem Fall eine Inhouse-Entwicklung von Daimler TSS. Ich hatte auch erst gemutmaßt, dass es mit HireTV, Talentcube oder PREPARO zusammenhängen könnte, tut es aber nicht.

  5. Stimmt. Das ist aber natürlich auch ein “Problem” mit jedem Foto auf einer klassischen Bewerbung…

  6. Hallo Jo,

    danke, sehr gut beschrieben.
    Ich frage mich, wieso ich als Bewerber noch ein Video machen und hochladen soll, wenn ich mich dann noch zusätzlich mit meinem XING- oder Linkedin Profil (oder FB und E-Mail -> wie funktioniert das eigetnlich per E-Mail?) registrieren soll.

    Für Developer, die ja angesprochen werden sollen, ein leichter “Overkill” in meinen Augen.

    Ich frage mich auch, welche Entwickler hier als Zielgruppe anvisiert werden. Wenn ich mir die verschiedenen Dialoge durchlese, klingt das für mich eine Ansprache an Absolventen.

    Die Sprache der Dialoge liest sich für meinen Geschmack auch eher weniger Dev-kompatibel.

    Aber vielleicht läuft das ja super, und ich irre mich ;)
    Liebe Grüße, Eva

  7. Schade nur, dass heute der Link ins Leere führt :-( Nicht gerade das beste Aushängeschild für eine IT-Stellen-Kampagne ;-)

  8. Hallo Jo,

    hier ein später Kommentar zum Thema Daimler TSS. Henner hatte am 29. Juli noch einmal darüber geschrieben und auf Deinen Beitrag verwiesen. Ich sehe es wie Eva: Welcher Developer würde sich per Video bewerben? Sehr wenige, denke ich. Hier passt die Bewerbungsform nicht zu der Zielgruppe. Ja, es ist wichtig, neue Formen der Bewerbung auszuprobieren. Nur gilt wie immer: Die Präferenzen der Bewerber kommen zuerst, dann die darauf angepassten Tools. Hatte Daimler TSS mal etwas über die Erfolgsbilanz der „15-Sekunden“ verlauten lassen?

    Herzliche Grüße, Helge

  9. Hallo Helge,

    nein, über die Resonanz des Formats weiß ich nichts. Aber sie setzen es weiter ein. Ich wäre auch immer vorsichtig mit Einschätzungen á la “Schüler nutzen kein Facebook” oder “Developer bewerben sich nicht per Video”. Das mag stimmen, oder nicht. Es mag für manche stimmen, für manche nicht. Rausfinden tut man es nur durch Tun, nicht durch “Annehmen” oder “Vermuten”. Schon gar nicht durch Stereotype. Auf jeden Fall scheint Daimler ja kein Einzelfall zu sein – Talentcube und Skillster gehen ja auch diesen Weg… Ich habe zu dieser ganzen Gemengelage einen halbfertigen Blogartikel hier liegen. Auf jeden Fall rückt man der “klassischen Bewerbung” doch im Moment von allen Seiten ganz schön auf den Pelz…

    VLG
    Jo

  10. Hi, cooler Artikel! Finde auch alles rund um möglichst hochtechnisiertes Recruiting, insbesondere mobile Recruiting sehr spannend. Insbesondere weil ich selber vor einigen Monaten auf Jobsuche war und ganz klar mobile Recruiting Tools verwendet habe. Habe meine Erfahrungen dazu auch zu Papier gebracht https://dabego.de/e-recruiting-kandidatensuche-im-internet/ welche sich mit deinen Erkenntnissen überschneiden.

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