Videointerviews über das Web – bald Standard? Conferencing-Tools wie Adobe Connect könnten weiteren Schub geben

Es ist etwas mehr als drei Jahre her als wir hier im Blog das erste Mal über verschiedene Formen des webbasierten Videointerviewings im Rahmen der Personalauswahl berichteten: Während OTTO zu dem Zeitpunkt bereits seit einiger Zeit und vor allem relativ umfangreich Skype einsetzte, um Echtzeit-Interviews durchzuführen, waren die zeitversetzten Videointerviews von viasto damals noch etwas sehr neues.

Nun, die Welt hat sich drei Jahre weitergedreht und wenn man heute von Videointerviews spricht, dann dürfte das keinem Recruiter mehr als wirklich exotisch erscheinen. Sind Videointerviews also dabei, sich zu einem Standardinstrument zu entwickeln, womit das Internet sich dann das nächste große Stück von der Recruitingprozesskette abgebissen hätte…?

Die-E-Recruiting-Wertschöpfungskette

Nun, ganz soweit würde ich noch nicht gehen, denn man sollte sich immer sehr davon hüten, die eigene Filterbubble als repräsentativen Querschnitt zu missinterpretieren. Videointerviews – egal ob in Echtzeit oder zeitversetzt – sind noch kein Standard, sondern die Evangelisten müssen dieses Thema immer noch fleißig missionieren (aber warum sollte es ihnen hier besser gehen als uns mit dem Thema Online-Assessment 3-4 Jahre früher…? ;-))

Wir selber haben im Rahmen unserer letzten beiden Einstellungen im Projektmanagement mehrere Interviews über Skype geführt, immer dann, wenn aus zeitlichen oder logistischen Gründen ein Interview vor Ort bei uns nicht klappte oder sinnvoll war. In beiden Fällen haben wir uns am Ende für eine Kandidatin entschieden, mit der das Interview über Skype stattfand. In einem der beiden Fälle fanden sogar Erst- und Zweitinterview über Skype statt, d.h. wir haben die Einstellungszusage gegeben, ohne die Kandidatin einmal persönlich getroffen zu haben. Das war in dem Fall besonderen Umständen geschuldet und ich würde daraus auch nicht ableiten, dass man auf das persönliche Kennenlernen verzichten sollte, ich will damit nur zum Ausdruck bringen, dass es so auch gehen kann und das es nicht mehr zwingend von Nachteil sein muss (weder für das Recruiting noch für den Kandidaten), wenn das Interview über das Internet stattfindet…

Neben den Echtzeit-Videointerviews gibt es aber eben auch die zeitversetzten, also jede, bei denen der Kandidat die Antworten auf ein vorab definiertes Set an Fragen vor seinem Rechner über Webcam und Mikrofon aufnimmt und dem Unternehmen dann zur Verfügung stellt. Die bekanntesten Anbieter hier dürften viasto, Hirevue, Ventrevista oder Spark Hire sein.

Videointerviews über Conferencing-Tools?

Ich habe mich bei all dem immer gefragt, warum eigentlich niemand auf die Idee kommt, die in vielen Unternehmen ohnehin vorhandenen sog. Conferencing-Tools für diesen Zweck einzusetzen. Ich spreche hierbei von Lösungen wie Adobe Connect, Cisco Webex, Citrix GoToMeeting oder auch verschiedenen Lösungen aus dem Hause Microsoft (Livemeeting, Lync bzw. Skype for Business).

Der Gedanke: Eigentlich – oder sagen wir zumindest mal “vermeintlich” – ist darin alles vorhanden, was man für Videointerviewing braucht, man hebelt die etwas wackelige datenschutzrechtliche Situation aus, die zumindest Skype mit sich bringt (Peer-to-Peer) und hat – zumindest theoretisch – ein Tool, mit dem sich Echtzeitvideointerviews und zeitversetzte Videointerviews durchführen lassen. Einzig: Scheinbar spielt dieser Verwendungszweck tatsächlich (noch) keine große Rolle bei den Anbietern dieser Systeme – sie werden nicht für diesen Verwendungszweck vermarktet und es gibt keinerlei Standardfunktionen, die darauf schließen lassen, dass man hier auch das Recruiting gedacht hat, z.B. Schnittstellen zu Bewerber-Management-Systemen.

Aber offensichtlich war ich doch nicht der einzige, der sich die Frage gestellt hat, warum man diese Tools nicht doch für diesen Zweck nutzbar machen kann. Denn vor kurzem trat das Startup jobclipr (über das ich in anderem – Matching – Zusammenhang ja kürzlich schon geschrieben habe) auf den Plan und kündigte eine gemeinsam mit reflact entwickelte und nun in die Vermarktung gehende Videointerviewing-Lösung auf Basis von Adobe Connect an.

Das Versprechen (sinngemäß): komfortable Echtzeitvideos über Adobe Connect mit Recording-Funktion (womit zumindest ein Vorteil der zeitversetzten Videointerviews, nämlich die Verteilbarkeit des Videos und asynchrone Sichtung und Beurteilung, mitbedient wird).

Leider konnte ich selber an dem Webinar, in dem die Lösung vorgestellt wurde, nicht teilnehmen, weil ich zeitgleich bei den Goodgamestudios einen Vortrag zum Thema Matching halten durfte. Aber ich habe meine charmante Kollegin Lisa gewinnen können, sich das Webinar einmal anzusehen und die jobclipr/reflact-Lösung näher in Augenschein zu nehmen.

Von daher reiche ich dann hier jetzt mal an Lisa weiter…

… Danke Jo ;-)

Das Webinar war tatsächlich eine schöne Gelegenheit, die Möglichkeiten des Live Video Recruitings kennenzulernen, insbesondere weil dieses direkt in der vorzustellenden Umgebung stattfand, nämlich über Adobe Connect abgewickelt wurde.

Im Vergleich zu Skype, das, wie Jo schon beschrieben hat, grundsätzlich für ein Live-Video-Interview genutzt werden könnte, bietet das von jobclipr angebotene Tool einige nette Features. Zuallererst: Man kann das Layout der Videoplattform auf die CI des Unternehmens anpassen. Soweit ich erkennen konnte, können auf jeden Fall ein Hintergrundbild, ein Firmenlogo und Überschriften in Unternehmensfarbe eingesetzt werden (hier für das Beispiel der fiktiven Firma SINOA).

jobclipr_Live_Interview_01_Start

Außerdem kann im Vorwege eine gewisse Dramaturgie für das gesamte Interview durch verschiedene Layouts festgelegt werden, was natürlich eine sinnvolle Standardisierung der Interviews unterstützt. Dabei können auch vor der Gesprächsdurchführung Dokumente hochgeladen werden, sodass z.B. Recruiter und Interviewpartner gleichzeitig einen Blick in den Lebenslauf werfen und sich über diesen unterhalten können.

jobclipr_Live_Interview_02_CV

Auch das uns immer so wichtige Thema des Vermittelns von möglichst realistischen Eindrücken kann hier berücksichtigt werden, indem vorhandene Unternehmensrundgänge in Videoform integriert werden oder eine kleine Führung durch eine Abteilung spontan über die Webcam eines Laptops, Tablets oder Handys durchgeführt wird.

jobclipr_Live_Interview_03_Video

Die Software Adobe Connect ermöglicht es nämlich das Live-Video-Interview mithilfe unterschiedlichster Endgeräte durchzuführen (bei Nutzung eines Handys oder Tablets, muss hierfür nur die entsprechende App heruntergeladen werden). Während des Webinars wurde dies auch exemplarisch gezeigt, da die drei Sprecher sich mit unterschiedlichen Geräten eingewählt hatten. Hierbei ist mir nur aufgefallen, dass die Lautstärke und Klangqualität sich zwischen den Sprechern unterschieden hat.

Recruiter und Bewerber sehen natürlich nicht zu jeder Zeit genau das gleiche. Dem Recruiter stehen ein paar praktische Funktionen zur Verfügung, um seine Eindrücke direkt während des Interviews zu notieren. Außerdem können zuvor definierte Kompetenzen direkt mit Punkten bewertet werden.

jobclipr_Live_Interview_04_Notizfunktionen

Eine weitere gute Funktion: Das gesamte Videointerview kann aufgezeichnet werden (worüber der Bewerber natürlich im Vorwege informiert werden muss) und es können im Verlauf per Klick einfach Zeitmarken gesetzt werden, damit man beim erneuten Betrachten des Videos direkt zu bestimmten Punkten im Interview springen kann. Den Mitschnitt vom Webinar kann man übrigens hier finden und so noch einmal einen Eindruck der verschiedenen Funktionen gewinnen.

Dies ist besonders nützlich, wenn im Nachgang weitere Personen im Unternehmen einen Eindruck vom Bewerber erhalten sollen (z.B. aus der Fachabteilung) und dabei auf ein entsprechend vorstrukturiertes Video zurückgreifen können. Natürlich ist es auch möglich, dass gleichzeitig mehrere Personen als Interviewer dem Gespräch beiwohnen.

Man kann dem Bewerber während des Interviews unterschiedlichste Aufgabenstellungen geben und dann seinen Umgang damit genau beobachten. Das können Fallstudien sein (Texte, Videos, etc. auf die dann reagiert werden soll) oder auch bereits vorhandene Tests und Assessmentaufgaben. Der Recruiter kann sich bei der Bearbeitung durch den Bewerber selbst stumm schalten und die Bildübertragung unterbrechen, was jedoch aus meiner Sicht auch komisch auf den Bewerber wirken kann, da hier die Kommunikation dann vorübergehend nur in eine Richtung funktioniert.

jobclipr_Live_Interview_05_Testeinbindung

Außerdem fand ich den Gedanken interessant, die Live-Video-Lösung nicht nur für Einzelinterviews zu nutzen. Erstens kann natürlich auch mit mehreren Bewerbern gleichzeitig gesprochen werden, wobei denkbar wäre diesen – wie in einem realen Assessment-Center – eine Gruppenaufgabe zu stellen, wodurch auch Aspekte der zwischenmenschlichen Interaktion in einem gewissen Rahmen online beobachtbar werden. Zweitens ist es denkbar, über das Tool Webinare anzubieten, z.B. zu bestimmten Einstiegspositionen, zum Unternehmen als solches etc., wobei die Aufnahme hinterher natürlich wunderbar als Content für die eigene Karriereseite (oder das jobclipr Profil ;-) ) dienen kann.

Es stellt sich nun insgesamt die Frage, was das für die angestammten Anbieter von Videointerviewing-Lösungen bedeutet…

Erstens könnte (sollte) dies bedeuten, dass diese ihren Kunden noch stärkere eignungsdiagnostische und prozessuale Unterstützung bieten, z.B. durch die Bereitstellung guter Interviewleitfäden und Beurteilungsbögen. Zumindest im Falle von viasto ist diese Dienstleistung ja bereits ein zentraler Bestandteil des Angebots.

Zweitens – oben bereits angedeutet – müssen die Tools ihre Stärke, nämlich aus dem HR zu kommen und nicht erst nachträglich “dort hin gedreht worden zu sein” ausspielen, etwa durch Schnittstellen zu anderen im Recruitingkontext eingesetzten Systemen.

Drittens – und das ist nicht so Science-Fiction, wie sich das vielleicht zunächst anhört – könnten sie ihre Kompetenz in der “automatisierten Interpretation” der Videoinhalte stärken. Das könnte z.B. über Tools gehen, wie sie das Fraunhofer-Institut kürzlich vorgestellt hat oder an denen Unternehmen wie Affectiva rumforschen (Interpretation von Mimik) oder Tools, die Stimmungslagen aus Stimmmodulation herausinterpretieren. Zumindest Hirevue experimentiert damit angeblich bereits rum…

Affectiva

Es ist also Bewegung im Markt der Video-Interview-Lösungen…

Ein Gedanke zu „Videointerviews über das Web – bald Standard? Conferencing-Tools wie Adobe Connect könnten weiteren Schub geben

  1. Hallo Jo,

    ich denke auch, dass der Einsatz von Video im Recruiting immer mehr zunehmen wird, selbst führe ich regelmäßig Interviews über Skype. Doch auch eine Bewerbung mit einem Video halte ich für sehr interessant. Bisher gab es dies eigeninitiativ, sprich Kandidaten drehten selbst ein Video, posteten das auf YouTube und verschickten den Link. Das Startup goltfisch.de hat mit HireTV eine mobile Lösung entwickelt, die es für Kandidaten sehr einfach macht sich per Video zu bewerben. Wäre vielleicht was für einen nächsten Test/Blog?

    Herzliche Grüße
    Volker

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