Was hat Candidate Experience mit Auswahltests zu tun? Eine Menge. Verblüffende empirische Studienergebnisse…

Candidate Experience war DAS Thema, das sich im März wie ein roter Faden durch das HR Barcamp zog. Auch ein kleiner Blick in Google Trends zeigt, dass die Bedeutung des Themas offensichtlich auf dem Vormarsch ist…

GoogleTrends_on_CandidateExperience

Candidate Experience ist wenn man so will wahrscheinlich das Meta-Thema, das hinter anderen vieldiskutierten Themen wie etwa Mobile Recruiting etc. steht, denn es geht beim Mobile Recruiting ja nicht darum, die Personalkommunikation und (perspektivisch) Bewerbungsprozesse deshalb mobiltauglich zu machen, weil es technisch geht, sondern weil die Bewerberzielgruppen dies möglicherweise so wollen.

Wenn man so will – und hier möchte ich gern die kleine “Candidate Experience Forschungsgruppe” Tim Verhoeven, Birger Meier und Jochen Kootz zitieren – geht es

“letztlich nicht nur darum – wie gerne bei vielen Unternehmen praktiziert – um die reine Ergebnisorientierung der Stellenbesetzung, sondern um das Erlebnis des Bewerbers mit dem Unternehmen”.

Oder wie schrieben Ina Ferber und Sandra Aengenheyster es gerade im Human Resources Manager:

“Weg vom Verwalten von Bewerbern hin zu einem Recruiting, das sich als Teil des Employer Brandings versteht”.

Kurz gesagt, geht es beim Candidate Experience darum, eine (im Grunde) Selbstverständlichkeit zu verinnerlichen:

Seine Bewerber als Kunden zu betrachten.

Deshalb ist Candidate Experience Management letztlich auch nichts anderes, als die Übertragung und Anwendung von Erkenntnissen aus dem Customer Experience- bzw. Customer Relationship Management auf die Personalgewinnung.

Gut, mir ist auch klar, dass es hier grundlegende Unterschiede gibt: Zu allererst einmal: Während ein Unternehmen beim Verkauf von Produkten immer nach dem Motto “je mehr desto besser” denken muss, ist das beim Recruiting nicht der Fall. Hier gilt vielmehr: “Je besser (passend), desto besser.” Und das kann eben durchaus auf heißen: Je weniger (nicht passende Bewerber), desto besser.

Von daher ist etwa eine 1:1-Übertragung von Themen wie Customer Journey (also der Analyse der Bewegung eines Kunden bis zum Kauf) nicht immer zielführend. Im E-Commerce ist es klar, dass jeder Abbruch innerhalb eines Kaufprozesses für das Unternehmen schlecht ist. Im Recruiting kann ein solcher Abbruch sehr wohl richtig und wünschenswert sein, nämlich dann wenn ein Kandidat (selber) feststellt, dass er nicht passt – Stichwort: Selbstselektion.

Aber: Ganz so leicht darf es sich das Recruiting dann eben doch nicht machen. Bewerberseitige Rückzüge aus dem Bewerbungsprozess (“Attrition”) dürfen nämlich nur dann passieren und sind nur dann sinnvoll, wenn diese aus inhaltlich richtigen Gründen geschehen, etwa weil ein Kandidat aufgrund hilfreicher Information feststellt, dass er nicht zum Unternehmen oder einer Stelle passt. Hier verweise ich ansonsten gern auf mein mantraartig vorgetragenes Plädoyer für mehr Transparenz in der Arbeitgeberkommunikation…

Diese Abbrüche dürfen aber NICHT passieren, weil das Recruiting in Bewerbern immer noch Bittsteller sieht (Einstellungssache) und/oder (deshalb) schlichtweg miese Auswahlprozesse diese nachhaltig abschrecken.

Das hält dann nämlich nicht nur die vermeintlich nicht so gut passenden Kandidaten von einer Bewerbung ab, sondern alle! Vielleicht die guten noch mehr, weil die sich so etwas eben nicht bieten lassen müssen.

Ein in diesem Zusammenhang manchmal ganz hilfreiches Argument zur Überzeugung von – sagen wir mal vorsichtig – “nicht ganz so bereitwilligen” Recruitern ist dabei, dass es sich oftmals auch bei abgelehnten Kandidaten ja weiterhin um potentielle Kunden des Unternehmens handeln kann. Oder wie wahrscheinlich ist es wohl, dass man sich bei einem Unternehmen sein nächstes Auto kauft, wenn man sich als Bewerber von diesem abwertend behandelt gefühlt hat? Und wie wahrscheinlich ist es, dass man sein Konto bei einer Bank behält, wenn diese sich einem im Bewerbungsverfahren als alles andere als kunden- und serviceorientiert gezeigt hat?

Nun, nicht dass wir uns falsch verstehen. Ich meine mit Candidate Experience keineswegs den Kniefall vor den Launen der Bewerberschaft, die z.T. sicherlich auch noch erst lernen muss, mit ihrer neu gewonnenen Verhandlungsmacht richtig umzugehen. Nein, ich meine damit vor allem ganz basale Grundtugenden wie Freundlichkeit, Verlässlichkeit und entgegengebrachte Wertschätzung.

Nochmal die drei Candidate Experience Autoren Verhoeven, Meier und Kootz:

Candidate Experience Management (CXM) bezeichnet die aktive Gestaltung aller Kontaktpunkte des potenziellen Bewerbers (Candidate Touchpoints) mit dem Unternehmen mit dem Ziel, einen positiven Gesamteindruck zu hinterlassen.

Soweit zur Einleitung… ;-) Ich möchte aber hier gar nicht das ganze dicke Brett bohren, was Candidate Experience alles ist und auf was dabei zu achten ist. Ich greife mir einen Aspekt heraus, der nach landläufiger Meinung oft erst einmal recht wenig mit den Themen Erlebnis und positiver Gesamteindruck zu tun hat:

Auswahltests…

Eine stimmige und unternehmensspezifische Arbeitgebermarkenkommunikation sollte demnach nicht bei einem so relevanten und für viele Kandidaten auch ersten richtigen Unternehmenskontaktpunkt wie der Personalauswahl aufhören.

Die Frage, wie Bewerber in der echten Auswahlsituation den Recruiting-Prozess einer Organisation bewerten, wird vor dem Hintergrund des Wettbewerbs um Talente zunehmend wichtiger. Die Forschung hat gezeigt, dass akzeptierte Personalauswahlverfahren die Wahrnehmung der Arbeitgebermarke, die Bereitschaft, ein Jobangebot anzunehmen, und die Wahrscheinlichkeit, den Arbeitgeber weiterzuempfehlen, positiv beeinflussen (Hausknecht, Day & Thomas 2004).

Dies vorausgeschickt erscheint nachvollziehbar, dass auch im Rahmen des Auswahlprozesses eingesetzte Testverfahren, die zunehmend über das Internet in Form von Online-Assessments durchgeführt werden, hinsichtlich ihrer Wahrnehmung und Akzeptanz durch den Kandidaten beurteilt werden müssen.

Setzen Unternehmen Testverfahren im Rahmen ihrer Selektionsprozesse ein, tun sie dies zunehmend über das Internet in Form sog. Online-Assessments. Warum Unternehmen zunehmend Online-Assessments einsetzen ist klar: einfacher, günstiger, schneller und somit insgesamt effektiver, bei gleichbleibender oder sogar steigender Messqualität (siehe u.a. Kirbach, Montel, Oenning & Wottawa 2004; Kupka, Diercks & Kopping 2004 oder Kupka, Müller & Diercks 2010).

Vor dem Hintergrund des sich weiter verschärfenden Wettbewerbs um Talente und angesichts der grundsätzlich hohen Erwartung der Generation Y an Arbeitgeber erscheint es aber eben auch zunehmend wichtiger zu wissen, wie Online-Assessments bei der eigentlichen Zielgruppe – nämlich den Bewerbern in der echten Auswahlsituation – ankommen: Denn mehr oder weniger positiv eingeschätzte Akzeptanz hat einen gewichtigen Einfluss auf die Arbeitgeberwahrnehmung, die Bereitschaft, ein Jobangebot anzunehmen (Hausknecht et al. 2004) und teilweise gar auf das Arbeitsverhalten eingestellter Mitarbeiter (Gilliland 1993).

Warszta (2012) kommt in einer umfangreichen Studie zur internetbasierten Personalauswahl zu dem Fazit, dass

„Organisationen durch die Gestaltung ihrer Auswahlinternetseiten aktiv die Fairnesswahrnehmung und die Verhaltensintentionen der Bewerber beeinflussen können“.

Das bedeutet, dass die Art und Weise, wie sich Personen während des Online-Recruiting-Prozesses behandelt fühlen, auch einen entscheidenden Einfluss auf reale Kennzahlen wie Abspringerraten, Annahmequote von Stellenangeboten etc. haben kann.

Online-Assessments sind ein wesentlicher Schritt innerhalb des Online-Recruitings und aufgrund einiger Besonderheiten wie der Orts- und Zeitunabhängigkeit, der Übermittlung von vertraulichen Daten über das Internet und dem fehlenden persönlichen Kontakt als eigene Verfahrensklasse zu betrachten (Warszta, 2012).

Es stellt sich daher die Frage, wie Online-Assessments in der realen Auswahlsituation bewertet werden, wie das reale Abspringerverhalten im Vergleich zur herkömmlichen Vor-Ort-Testung aussieht und welche Aspekte die Akzeptanzbewertung beeinflussen.

Es gibt zwei Arten von Online-Assessments

Dies ist insbesondere vor der teilweise doch recht unterschiedlichen Ausgestaltung von Online-Assessments von Interesse. Denn: es gibt langweilige Online-Assessments (sagen wir mal: “nüchterne Aneinanderreihungen von Testfragen”) und es gibt Online-Assessments, die gleichzeitig als Personalmarketing-Instrumente dienen – ansprechend gestaltet, wesentliche Informationen über den Arbeitgeber vermittelnd und teilweise sogar unterhaltsame (Entspannungs-)momente bietend. Hier hat Recrutainment Einzug in die Eignungsdiagnostik gehalten.

Beispiele gibt es ja inzwischen zu Hauf: Von sehr aufwendig gestalteten Formen (Targobank Tour, E.ON Phasenprüfer, Tchibo eAssessment, Gruner+Jahr CyPRESS) bis hin zu zwar schlichteren, aber immer noch deutlich im Sinne einer Zwei-Wege-Kommunikation gestalteten Lösungen (Fielmann, TenneT, Wieland-Werke etc.).

Doch lohnt sich dieser Aufwand? Wie gefallen Bewerbern denn Online-Assessments mit Recrutainment? Verbessert die ohne Frage aufwendigere Gestaltung die Candidate Experience?

Diese Fragen konnten wir Mithilfe von zwei umfangreichen Studien beantworten:

In einer Befragungsstudie konnten die Einschätzungen von insgesamt 969 Ausbildungskandidaten in einer echten Auswahlsituation gewonnen werden. Inhalt der Befragung waren primär Fragen zur Akzeptanz, wobei das gemeinhin akzeptierte Messeverfahren Akzept!-L von Martin Kersting (2008) eingesetzt wurde, ergänzt um spezifische Items zur Messung verschiedener Recrutainment-Aspekte.

Im Rahmen einer separaten Vergleichsstudie bei einem anderen Kunden wurde das Verhalten von über 1036 Bewerbern in der echten Auswahlsituation untersucht. Das Besondere: Eine Hälfte (530 Personen) durchlief als zweiten Auswahlschritt einen klassischen Pen&Paper-Test mit Durchführung vor Ort. Die andere Hälfte (506 Personen) durchlief ein testinhaltlich sehr ähnliches, aber um Personalmarketingbotschaften ergänztes Online-Assessment. In beiden Fällen lag der Fokus auf der Messung kognitiver Leistungsfähigkeit. Bis auf diese Unterscheidung waren alle anderen Auswahlschritte der beiden Gruppen identisch.

Deutlich höhere Akzeptanz von “recrutainten” Online-Assessments

In der Befragungsstudie beurteilte eine große Mehrheit der Befragten Online-Assessments mit Recrutainment nicht nur als sehr positiv, sondern gab an, diese Form der Online-Testung der herkömmlichen Vor-Ort-Testung sogar vorzuziehen. Darüber hinaus würdigten die realen Bewerber nicht nur die zumeist aufwendigere Gestaltung von Online-Assessments mit Recrutainment-Aspekten sowie die Zusatzinformationen und das Design, sondern bewerteten auch Komfort-Aspekte wie die freie Zeiteinteilung oder die Entspannungsphasen zwischen den Tests ebenso gut wie den eigenen Mehrwert durch die Bearbeitung des Online-Assessments.

Bewertung_Online-Assessment_Recrutainment

Gesamtbeurteilung Online-Assessment (Kupka 2014); N = 969

Jeweils über 90% der Testteilnehmer stimmten verschiedensten Recrutainment-Aspekten zu, wie beispielswiese den Aussagen, „etwas Neues über Unternehmen/Ausbildung erfahren zu haben“, die „Zusatzinformationen als hilfreich empfunden zu haben“ oder die „gestellten Anforderungen nun besser beurteilen zu können“. Ebenso stimmten 91% der realen Testkandidaten der Aussage zu, dass sie im Online-Assessment mit Recrutainment Spaß hatten.

Auch die Effekte für das Ansehen der eigenen Arbeitgebermarke durch Online-Assessments mit Recrutainment waren positiv: So gaben beinahe alle der befragten Kandidaten an, dass durch die Teilnahme am Online-Assessment mit Recrutainment nicht nur das eigene Interesse an der Ausbildung bei dem Unternehmen gewachsen ist (94% Zustimmung), sondern das Verfahren auch die Meinung über das Unternehmen positiv beeinflusste (93%). Das sind vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es sich bei Online-Assessments trotz allem um Leistungsverfahren in einer Auswahlsituation handelt, erstaunlich positive Werte.

Beurteilung_Recrutainment_Aspekte_Online-Assessment

Bewertung der Recrutainment-Aspekte (Kupka 2014); N = 969

Ach ja, nicht dass es hier nachher heißt “Ihr könnt ja viel erzählen” oder “glaube keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast”… Die Untersuchung fand im Rahmen einer Masterthesis an der Universität Flensburg statt. Diese wurde im März mit dem Hans-Adolf-Rossen-Preis ausgezeichnet…

Weniger Abspringer und weniger Aufwand bei der Onlinedurchführung

In der Vergleichsstudie sprangen in der Offlinegruppe von den etwa 500 zum Vor-Ort-Test eingeladenen Personen etwas mehr als die Hälfte ab, indem sie nicht erschienen oder ihre Bewerbung zurückzogen. In der Onlinegruppe absolvierten hingegen 77 % der Personen das Online-Assessment vollständig. 21.5 % kamen der Einladung zum Online-Assessment nicht nach und 1.5 % loggten sich zwar ein, sprangen aber während der Bearbeitung ab, so dass insgesamt 23 % Abspringer in der Onlinegruppe zu verzeichnen waren.

Warum in der Onlinegruppe deutlich weniger Abspringer zu finden sind, dazu können zwei Ergebnisse aus der Befragungsstudie möglicherweise erste Hinweise geben: 83 % der dort knapp 1 000 befragten Personen gaben an, dass das Online-Assessment verglichen mit der Durchführung eines Tests vor Ort mit weniger Aufwand verbunden ist. 93 % empfanden es als Vorteil, dass der Zeitpunkt der Bearbeitung innerhalb der vorgegebenen Frist frei wählbar ist.

Die Onlinedurchführung ist für die Kandidaten offensichtlich deutlich niedrigschwelliger und führt nicht so stark zu einem Abspringen. Dieser Befund spricht für eine höhere Zielgruppenakzeptanz für die Onlinedurchführung.

Abspringer_Online_versus_Offline_Test

Abspringer Offline- vs. Online-Assessment (Kupka 2014); N = 1036

Man muss sich mal vergegenwärtigen, was diese Zahlen bedeuten: Von 100 zu einem Präsenztest eingeladenen Personen haben 53 % (!) von sich aus einen Rückzieher gemacht. Nur dadurch, dass dieser Test nun bequemer online von zuhause aus absolviert werden kann (bei wohlgemerkt nicht nur gleicher, sondern sogar leicht besserer Messqualität), tun dies beim Online-Assessment nur noch 23 %.

Das bedeutet: bei 30 von 100 Personen kommt das Unternehmen so überhaupt erst in die Gelegenheit, diese besser kennenzulernen. Vorher waren die einfach weg. Tschüss! Beim Wettbewerber. Jetzt kann man auch diese mit in die Auswahl einbeziehen – was für eine unglaubliche Reduzierung des Auswahlfehlers zweiter Art.

30 von 100 Personen mehr haben sich früher vom Unternehmen abgewendet, weil ihnen der Auswahlschritt “Test vor Ort” nicht gepasst hat, weil die Candidate Experience bzgl. dieses einen Auswahlschritts nicht passte…

Auch die Gestaltung von Auswahlprozessen hat viel mit der Candidate Experience zu tun

Tja, soweit “in aller Kürze” ein paar Anmerkungen dazu, dass die Gestaltung des Auswahlprozesses und der eingesetzten Auswahlinstrumente einen enormen Einfluss auf den Recruitingerfolg haben kann. Wer das in Langfassung lesen möchte, der sei auf den Artikel “Online-Assessments im Recrutainment-Format: Wie gefällt das eigentlich den Bewerbern in der echten Auswahlsituation?” meines Kollegen Kristof Kupka in unserem Buch verwiesen.

Und nochmal: Jeder vor den Kopf gestoßene Kandidat ist auch potentiell ein Kunde für das Unternehmen weniger. Den Image-Spillover von der Produktmarke auf die Arbeitgebermarke, den gibt es nämlich auch umgekehrt.

Nicht vergessen…!

12 Gedanken zu „Was hat Candidate Experience mit Auswahltests zu tun? Eine Menge. Verblüffende empirische Studienergebnisse…

  1. Ein sehr interessanter Beitrag: Ein weiterer wichtiger Effekt eines positiven und nachhaltigen Candidate Experience: Wertvolle Kompetenzen können verborgen bleiben oder ein Kandidat kann durch extreme Verunsicherung und Nervosität gar einen völlig falschen Eindruck erwecken. Nebst dem Verhalten und der korrekten und empathischen Interviewführung trägt auch eine schon zu Beginn positive Atmosphäre und Wertschätzung zu einer entspannten Situation bei.

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